Ansbach nach dem Anschlag: Das blanke Entsetzen
25.7.2016, 18:37 UhrAm frühen Abend gibt die Spurensicherung den zuvor weiträumig abgesperrten Tatort wieder für die Öffentlichkeit frei. Man sieht: fast nichts. Außer Kameras und Journalisten. Der kleine Platz vor der Weinstube weist praktisch keine sichtbaren Schäden auf. Die Scheiben eines Schaukastens sind gesplittert, ansonsten deutet wenig darauf hin, dass sich hier am Abend vorher ein syrischer Flüchtling in die Luft gesprengt hat.
Die Fassade des Gebäudes dahinter ist heil geblieben, ebenso die Fensterscheiben. Lediglich die Tische und Stühle seien von der Wucht der Detonation umgeworfen worden, Gläser gingen zu Bruch. Claudia Frosch saß mit dem Attentäter an einem Tisch; als extrem gutaussehend wird der 27-Jährige beschrieben, nervös soll er gewesen sein. Claudia Frosch ist zum Zeitpunkt der Explosion in der Wirtschaft, ihre beiden Freundinnen sitzen etwa drei Meter neben dem Attentäter. Wie durch ein Wunder bleiben sie praktisch unverletzt, nur ein paar Schnittwunden müssen im Krankenhaus behandelt werden.
"Wir müssen weitermachen, dürfen uns nicht verängstigen lassen", sagt eine ältere Dame in einem nahen Eiscafe; eine junge Frau mit ihrem sieben Monate alten Baby auf dem Schoss wird von einem kanadischen Fernsehteam gefragt, ob sie glaube, dass sich das Verhältnis der Bevölkerung zu Asylbewerbern nun ändern werde. "Ich hoffe nicht", sagt sie, der eine oder andere werde sich künftig wohl etwas anders verhalten, "aber ich möchte nicht in Angst leben".
Den Deutschen Rache geschworen
Zumindest gestern haben die meisten Ansbacher: Angst. Auch die Oberbürgermeisterin kann nicht fassen, dass es jetzt ihre Stadt getroffen hat. Am Nachmittag gibt Carda Seidel noch eine Pressekonferenz, sichtlich gezeichnet von der Beinahe-Katastrophe und übermüdet tritt sie vor Kameras und Mikrofone. "Als es zur Explosion kam, ist eine geordnete Räumung des Musikfestivals durchgeführt worden", sagt Seidel zum Beispiel, solche Sachen. 2000 Menschen seien beim Konzert in der Reitbahn gewesen – darunter auch ein junges Mädchen, das vor sieben Jahren bereits den Amoklauf am Gymnasium Carolinum miterleben musste.
Carda Seidel liegen neue Erkenntnisse über die Zahl der Opfer vor. 15 Verletzte sind es nunmehr, darunter vier Schwerverletzte. Versucher Mord in 15 Fällen. Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann berichtet von einer Anschlagsdrohung des Täters, das Video entdecken die Ermittler auf dem Handy des Syrers. Den Deutschen habe er Rache geschworen, der Anschlag hat nun doch einen radikalislamistischen Hintergrund; der Anführer der Terrormiliz IS wird in der Aufnahme namentlich erwähnt.
Viele Ansbacher wissen das am frühen Abend noch gar nicht. Die Tat ist auch so schlimm genug; fassungs- und ratlos sitzen einige vor dem Ort des grausigen Geschehens und versuchen zu begreifen, was eigentlich nicht zu begreifen ist. Bleischwer lastet der Anschlag auf der Stadt, die sich zu Recht ihrer hohen Lebensqualität rühmt. Und jetzt das.
Die Ausfallstraßen werden auch am frühen Abend noch von Polizisten überwacht; ein Gefühl der Sicherheit will der Bayerische Innenminister möglichst schnell wieder einkehren lassen in Ansbach, wenn es sein muss, auch mit einem erhöhten Aufgebot an Ordnungskräften. Vor allem im Innenstadtbereich verkehren nach wie vor viele Streifenwagen. Wenngleich es nicht mehr viel zu regeln gibt.
Antriebslos, nachdenklich, eingeschüchtert
Wie paralysiert lassen viele Ansbacher den Tag danach an sich vorüberziehen. Antriebslos, nachdenklich, eingeschüchtert. Alte und Junge unterhalten sich über Gewalt und die Folgen, über vermeintliche Lösungsstrategien. Etwa 600 Flüchtlinge sind derzeit in der Stadt untergebracht, Anfeindungen hat es nur vereinzelt gegeben, zum Beispiel von Nachbarn der umfunktionierten Gebäude. Selbst dass die schönste und größte Sporthalle der Stadt den Winter über zweckentfremdet werden musste, nahmen die Bürger überwiegend klaglos hin.
Nun aber droht die Stimmung zu kippen. So etwas wie am Sonntagabend vor der Weinstube hielten die Leute für nicht möglich in ihrer Stadt. So etwas kannten die Ansbacher nur aus dem Fernsehen, das jetzt plötzlich mit acht, neun Kamerateams zu Gast ist in der Pfarrstraße. Claudia Frosch muss viele Interviews geben, für den Bayerischen Rundfunk, für den kanadischen. Geschlafen hat sie nicht, auch die Wirte der Pilsbar Tam Tam nebenan hatten eine unruhige Nacht. Ihre Kneipe hat während der Bundesliga-Pause sonntags geschlossen, während der Detonation hielten sich die beiden in ihrer Wohnung im ersten Stock auf.
Am Montagabend hat das Tam Tam wieder geöffnet. Einige Gäste stehen davor und trinken Bier. Ihre Blicke verraten: blankes Entsetzen. Der Mann einer ehrenamtlichen Flüchtlingshelferin berichtet von zahllosen Anrufen und Kurznachrichten in der Nacht. Einige Syrer hätten sich bei seiner Frau gemeldet - und entschuldigt.
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