"Auch kleine Hilfen sind oft schon viel wert"
29.5.2014, 10:32 UhrAls gelernte Erzieherin und Studentin der Sozialen Arbeit, kam Ruth Martini (25) zum ersten Mal mit der Flüchtlingsproblematik in Kontakt, als sie während dem Studium ein Praktikum ableistete. Sie arbeitete mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, die im Außenbetreuten Wohnen der Wohngemeinschaft für Flüchtlingskinder e.V. untergebracht sind. Bei ihrer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen konnte sie nicht nur viele Erfahrungen machen, sondern weiß auch vieles über die Lebenswirklichkeit junger Flüchtlinge zu erzählen. Inzwischen ist sie Privatvormündin einer 17-jährigen Jugendlichen aus Äthiopien.
Sie haben vor allem mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen gearbeitet. Wie alt sind die Kinder, wenn sie hierher kommen?
Ruth Martini: Die Kinder sind zwischen 12 und 17 Jahre alt. Genau kann man das oft nicht sagen, sie kommen ja ohne Pass an. Die Alterseinschätzung der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge obliegt in Nürnberg dem Jugendamt, das mit der Clearingstelle zusammen arbeitet. Ein endgültiges Verfahren zur Altersbestimmung ist schon seit langer Zeit in Diskussion.
Wie kommen diese Kinder eigentlich nach Deutschland?
Ruth Martini: Meistens sorgen Verwandte dafür, dass sie das Land verlassen können. Sie werden dann Schlepperringen übergeben. Teilweise nur gegen sehr viel Geld. Flüchtlinge aus Afrika kommen oft über den Seeweg. Sie werden zu Dutzenden in winzige Schlauchboote gepfercht. Fast keiner von ihnen kann schwimmen. Viele überleben das nicht. Einige Jugendliche erzählen, wie Menschen auf den Booten gestorben sind, weil sie kein Wasser und nichts zu essen hatten. Die Toten mussten dann über Bord geworfen werden, damit die anderen eine Chance haben, die Überfahrt zu schaffen.
Aus Afghanistan und dem Iran kommen die Flüchtlinge oft in Lkws. Auch das ist nicht weniger gefährlich. Viele von ihnen sind jahrelang auf der Flucht, passieren Landesgrenzen, arbeiten dann unter widrigsten Bedingungen, um sich ihre weitere Flucht finanzieren zu können. Viele landen in der Türkei und in Griechenland im Gefängnis. Wenn sie dann, nach Monaten und Wochen entlassen werden, schließen sie sich Schleppergruppen an, die sie dann nach Deutschland bringen.
Was passiert, wenn die Flüchtlinge in Deutschland ankommen?
Ruth Martini: Die Schlepper haben natürlich Angst, erwischt zu werden. Deshalb lassen sie die Menschen an abgelegenen Orten raus, oft mitten in der Nacht. Häufig in Wäldern, weiter weg von größeren Städten. Die Menschen sind dann in einem völlig fremden Land, ohne Sprachkenntnis und Orientierung auf sich gestellt. Das heißt dann zur nächsten Ortschaft laufen und eine Polizeistation suchen, bei der sie Asyl anmelden können.
Von da aus geht es dann ins Erstaufnahmelager, in Bayern nach München oder nach Zirndorf. Dort bleibt man dann offiziell drei Monate lang, meistens aber auch länger. Seit kurzem müssen unbegleitete jugendliche Flüchtlinge nicht mehr in die Erstaufnahmelager. Sie kommen in Einrichtungen der Jugendhilfe.
Was sind die Gründe dafür, dass Angehörige die Kinder trotz solcher Gefahr auf die Flucht schicken?
Ruth Martini: In vielen Ländern herrscht Krieg. Andere flüchten, weil ihre Familien im Heimatland politisch verfolgt werden. Andere haben gar keine Eltern mehr und viele Mädchen werden genitalverstümmelt, vergewaltigt oder zwangsverheiratet. Andere sollen auch nach Europa, um von dort aus die Daheimgebliebenen ernähren zu können. Für viele ist es der einzige Ausweg.
Die meisten der Kinder haben schreckliche Erlebnisse hinter sich. Sie waren ja teilweise jahrelang auf der Flucht, mussten mit ansehen wie Mitflüchtlinge sterben, haben in ihrem Heimatland Tod, Vergewaltigung oder Verstümmelung erlebt und zum Teil ihre Eltern oder sogar alle ihre Angehörigen verloren. Viele sind schwer traumatisiert und lebten dann bis vor ein paar Monaten mit anderen traumatisierten Kindern auf engstem Raum zusammen. Seit Anfang diesen Jahres dürfen unbegleitete minterjährige Flüchtlinge nicht mehr in Sammelunterkünften untergebracht werden, sondern nur noch in Jugendhilfeeinrichtungen, je nach dem individuellen Bedarf des einzelnen Jugendlichen.
Was machen die Jugendlichen, wenn sie in Deutschland leben?
Ruth Martini: Falls für sie ein Platz in einem Heim oder einer Wohngemeinschaft gefunden wurde, gehen sie in Schulen, in denen sie deutsch lernen und auf Ausbildungsberufe vorbereitet werden sollen. Bevor sie eine Ausbildungsplatz antreten, absolvieren sie meistens Praktika. Leider passiert es öfter, dass sie von potentiellen Arbeitgebern ausgenutzt werden. Oft werden sie stundenlang irgendwo isoliert zum Arbeiten abgestellt. Ein Mädchen hat bei einem Praktikum in der Altenpflege zum Beispiel täglich acht Stunden im Keller gebügelt. Ganz alleine, ohne Pause. So können die Jugendlichen ihre Sprachkenntnisse nicht verbessern und sich noch schwerer integrieren. Ein Ausbildungsplatz schützt übrigens nicht vor Abschiebung.
Was passiert, wenn die Jugendlichen 18 Jahre alt werden?
Ruth Martini: Wenn sie volljährig werden, müssen sie die Kinderheime und Wohngemeinschaften für Jugendliche verlassen. Wer Glück hat erhält das Aufenthaltsrecht und kann sich dann selbst eine Wohnung suchen. Wer niemanden kennt der zufällig eine Wohnung zu vermieten hat, hat meistens Pech.
Ich habe oft versucht dabei zu helfen, für Flüchtlinge eine Wohnung zu finden. Das ist nahezu unmöglich. Ein Freund von mir lebte zwölf Jahre lang im Asylheim, bevor er in der Wohnung eines Bekannten untergekommen ist. Das ist nichts Ungewöhnliches. Das Mädchen, das ich betreue, konnte in eine Wohnung eines Bekannten ziehen. Da sie noch minderjährig war, musste ich bis zu ihrer Volljährigkeit den Mietvertrag unterschreiben. Für die anderen gilt: Flüchtlinge haben die Pflicht, im Asylheim zu leben.
Was kann man tun, um junge Flüchtlinge zu unterstützen?
Ruth Martini: Wer wirklich helfen möchte, kann für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge eine Privatvormundschaft übernehmen. Ansprechpartner für Leute in Nürnberg, die Interesse an so etwas haben ist die "Wohngemeinschaft für Flüchtlingskinder Nürnberg e.V." (Ludwig Brandt).
Wie funktioniert so eine Privatvormundschaft?
Ruth Martini: Man lernt sich erst mal kennen, um zu sehen, ob man zusammenpasst. Wenn sich beide Seiten dazu entschieden haben, wird ein Antrag auf Vormundschaft beim Jugendamt beziehungsweise dem Amtsgericht Nürnberg gestellt. Wirklich wichtige Entscheidungen, die die Berufswahl oder das Asylverfahren betreffen, muss man aber natürlich nicht alleine treffen. Man kann sich mit den Betreuern und natürlich auch mit dem Jugendlichen selbst absprechen. Das Wichtigste ist, dass die Jugendlichen einen Ansprechpartner haben, der ihnen bei Amtsgängen, Arztbesuchen oder auch bei ganz alltäglichen Problemen hilft.
Wie kann es den Jugendlichen helfen, einen Privatvormund zu haben?
Ruth Martini: Das Wichtigste ist eigentlich den Jugendlichen zu helfen, sich zurechtzufinden. Viele von ihnen haben ihre Familie im Krieg verloren oder sie wurden bei der Flucht getrennt und die Kinder sind ganz alleine. Eine Vormundschaft kann dazu genutzt werden, beim Lernen der Sprache, der Suche nach einem Ausbildungsplatz oder einer Wohnung und bei vielen anderen Kleinigkeiten zu helfen. Auch kleine Hilfen sind oft schon viel wert.
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