Babyleichen in Wallenfels: Prozess gegen Eltern beginnt
12.7.2016, 09:00 UhrPorzellanengel und brennende Kerzen stehen quasi als Mahnwache auf der Fensterbank an der Hauptstraße. Hinter der Fassade des gedrungenen Hauses fanden die unglaublichen Szenen statt, die jetzt das Landgericht in Coburg beschäftigen: Acht Babyleichen waren im vergangenen November im ersten Stock des Hauses gefunden worden.
Binnen weniger Stunden wird der staatliche Erholungsort im Naturpark Frankenwald von einer Medienlawine überrollt. Übertragungswagen blockieren den Marktplatz und die angrenzende Rathausgasse. Und Bürgermeister Jens Korn (CSU) ringt vor den Kameras und Mikrofonen um Fassung. Er, der so gerne die "intakte Ortsgemeinschaft" beschwört, stellte aber gleich die entscheidenden Fragen, die auch seine Mitbürger bewegten: "Hätten wir die Tragödie verhindern können - etwa mit Hilfsangeboten? Warum durften die Kleinen nicht leben?"
Natürlich kennt auch der Bürgermeister jenes kinderreiche Paar, das plötzlich im Zentrum der Ermittlungen steht. Er hatte sich bei der Wasserwacht engagiert, sie half im Kiosk des Schwimmbades aus. Allgemein bekannt ist damals auch, dass die beiden, die aus Wallenfels stammen, seit etwa sechs Wochen getrennt sind.
Wenige Hundert Meter entfernt ringen damals auch erfahrene Kriminalbeamte um Fassung: Polizisten und Rechtsmediziner finden die sterblichen Überreste der Neugeborenen. In einem Abstellraum, in Plastiktüten und Handtücher gewickelt.
Mutter sitzt in Untersuchungshaft
Die damals 45-jährige Frau lebt da schon seit wenigen Wochen nicht mehr in Wallenfels, hält sich mit ihrem neuen Freund in einer Pension im nahen Kronach auf. Es ist eine Patchworkfamilie: Mit dem Vater der toten Säuglinge hat die Frau drei gemeinsame Kinder, die leben; beide brachten in die Beziehung je zwei weitere Kinder mit.
Am Dienstag soll in Coburg nun der Prozess gegen die beiden beginnen, die Mutter sitzt in Untersuchungshaft. Der Psychiater und Gutachter Michael Soyka ist Experte für Fälle der Kindstötung. "Es gibt da eine Kultur des Wegschauens, des Verdrängens", sagt er. In der Familie - und im Dorf. "Eine Schwangerschaft kann man mal übersehen, acht übersieht man nicht. Das ist unmöglich." In kleinen Gemeinschaften, erklärt der Psychiater, sei die soziale Kontrolle viel stärker als in Großstädten. In solchen Analysen liegt auch ein Vorwurf.
Wer etwas bemerkt hat oder nicht, das wird das Gericht versuchen zu klären. Die Staatsanwaltschaft wirft der Mutter vor, vier der Babys vorsätzlich umgebracht zu haben. Der Vater soll ihr dabei geholfen haben.
Die beiden Angeklagten wollten, so der Vorwurf der Staatsanwaltschaft, ohne Einschränkung durch weitere Kinder leben. Der neue Freund der Frau wendet sich an die Polizei, und schließlich legt sie ein Geständnis ab: Sie habe einige Kinder lebend geboren und getötet.
"Es war eine ganz normale Familie"
"Es war eine ganz normale Familie", sagt eine Frau auf dem Marktplatz. Die Schwangerschaften will niemand bemerkt haben. Hinter dem Haus, etwas erhöht über dem Tal, in dem das Dorf liegt, steht die katholische Dorfkirche. Als sich die Nachricht verbreitete, konnten die Menschen dort Zettel aufhängen, für Fragen und Gefühle. Heute hängt da eine Einladung zum Familiengottesdienst. "Der Ort braucht Ruhe", sagt Pater Jan Poja. "Aber diese Geschichte wird noch in 100 Jahren erzählt werden."
"Gemeinschaften tabuisieren, was nicht ins Selbstbild passt, wovor sie sich schützen wollen, und oft auch, was ein Gefühl der Mitschuld auslöst", erklärt Tabuforscher Hartmut Schröder von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder.
Das Dorf ist nun wie Lichtenberg (Peggy) oder Flachslanden (Inzest) verbunden mit einem Verbrechen, mit Kindsmord, einem Tabu. Und die Bewohner, fürchten viele, werden mit diesem Verbrechen gleichgesetzt, sitzen quasi mit auf der Anklagebank.