Bad Aibling: Fahrdienstleiter zu Haftstrafe verurteilt

5.12.2016, 12:52 Uhr
Bad Aibling: Fahrdienstleiter zu Haftstrafe verurteilt

© Roland Englisch

Der 40-jährige Angeklagte blickt nicht einmal auf. Er starrt unverwandt auf einen Punkt in der Ferne, während der Richter ihm die meiste Zeit ins Gesicht sieht, ihn immer wieder anspricht. Er weiß, was er getan hat, hat es weder in seinen Vernehmungen, noch im Prozess bestritten, hat sich entschuldigt bei den Opfern, den Angehörigen. Er hat um Fassung gerungen und um Worte. Richter Fuchs findet diese Worte. Erst schildert er detailreich und minutiös, was sich im Stellwerk an jenem frühen Dienstag abgespielt hat. Wie der Fahrdienstleiter immer wieder auf seinem Handy das Onlinespiel Dungeon Hunter 5 gespielt habe, nicht zum ersten Mal, sondern seit Wochen bei jedem Dienst. Wie er nebenher die Züge durchgeleitet hat auf der eingleisigen Strecke zwischen Bad Aibling und Kolbermoor. Und wie ihm dann eine ganze Serie von Fehlern unterlaufen ist.

Erst hat er dem einen Zug grünes Licht gegeben, dann dem Gegenzug. Er hat sich über die Technik hinweg gesetzt, die das verhindern wollte, hat Sondersignale gegeben, mehrfach sogar, ohne dass er sich, wie es im Regelwerk der Bahn heißt, davon versichert habe, dass die Strecke auch tatsächlich frei gewesen war. Er hätte es sehen können, sehen müssen, daran lässt der Richter keinen Zweifel aufkommen. Der Mann war geschult, erfahren, nach Aussage seines Vorgesetzten, eigentlich vorbildlich gewesen in seinem Job. An diesem Tag war er es nicht.

 

Und für das Gericht steht außer Zweifel, dass es nur ein Zufall war, dass es an diesem 9.Februar zur Katastrophe gekommen war. Es hätte, so sagen sie es in ihrem Urteil, auch zu einem anderen Zeitpunkt passieren können, des Onlinespiels wegen. Das sei "ursächlich" gewesen für sein Versagen, für seine fehlende Konzentration, für die Fehler, die ihm unterlaufen sind. "Er war unfähig, fachlich korrekt zu handeln, obwohl das ohne Zweifel möglich gewesen wäre."

Denn draußen auf der Strecke hatte sich an diesem Morgen eigentlich nichts Ungewöhnliches getan. Die beiden Züge hätten sich in Bad Aibling passieren sollen, sie waren fast im Zeitplan. Doch der Fahrdienstleiter spielte, las die Begegnungspunkte falsch ab, spielte wieder, gab erst dem einen grünes Licht, spielte weiter, dann dem anderen. Als die Züge schon auf Kollisionskurs waren, setzte er noch einen Notruf ab – doch er hatte die falsche Taste gedrückt. Die Triebzugführer hörten den Funkspruch nie.

Für das Gericht steht die Schuld des 40-Jährigen außer Frage, und auch die Schwere seiner Verfehlungen. Er habe Verantwortung für Menschen gehabt, die sich ihm in den Zügen anvertraut hätten, die darauf vertraut hätten, dass er seine Arbeit nicht nebenher erledige. Grob fahrlässig habe er gehandelt, "in hohem Maß verantwortungslos“. Es sei "kein Augenblicksversagen" gewesen, wie es bei Unfällen häufig auftritt und sich strafmildernd auswirken kann. Deswegen müsse er hinter Gitter,  Bewährung sei somit ausgeschlossen. Drei Jahre und sechs Monate Haft hält das Gericht für angemessen.

Dass die große Strafammer auch die Bahn verantwortlich gemacht habe, wie einer der Anwälte der Nebenklage aus dem Urteil herausliest, ist allerdings nicht der Fall. Die Technik habe funktioniert, sagt der Vorsitzende Erich Fuchs. Sie hätte das Unglück verhindert, hätte der Angeklagte sie nicht vorsätzlich außer Kraft gesetzt. Gleichwohl hoffen die Anwälte nun darauf, dass ihre Mandaten – Angehörige der Toten, Überlebende des Unglücks – ihren Frieden finden können. Sie kritisieren das Urteil nicht in seiner Höhe; sie sagen, sie wollten sich jetzt auf die zivilrechtliche Seite konzentrieren, auf die Auseinandersetzung mit der Versicherung der Bahn.

Auch Jannik H. ist an diesem Tag im Gerichtssaal. Er ist heute 18 Jahre, kann immer noch nur auf Krücken laufen. Er war der Letzte, den die Helfer aus den Trümmern der beiden Züge hatten bergen können, mit schwersten Verletzungen an seinen Beinen. Jannik hat auf irgendetwas gehofft, auf Genugtuung vielleicht oder auf eine Antwort. Jetzt steht er da, sucht nach Worten, findet sie aber nicht wirklich. Er ist mit dem Urteil unzufrieden, findet aber, dass der Richter "sich das Richtige gedacht" habe. Er habe sich etwas anderes vorgestellt, sagt er, "auch die Emotion, die ich heute beim Angeklagten überhaupt nicht gespürt habe". Vielleicht hat er sich einfach zu viel erwartet von einem Verfahren, das sich ganz auf das Versagen des Angeklagten konzentrieren musste.

Zumindest ist er mit seinem unguten Gefühl nicht allein. Das habe ihn am meisten genervt rund um das Unglück und das Verfahren, sagt einer der Nebenklagevertreter: Dass alle so viel Mitleid mit dem Angeklagten hätten. "Beim besten Willen, damit tue ich mich schwer, das zu verstehen", sagt er. Mitleid hätten die Opfer verdient, findet er. Doch hier sei "der Fokus auf den Angeklagten und nicht auf die Opfer" gerichtet gewesen. Doch das, das weiß er als Jurist, ist nun mal das Wesen eines Strafprozesses.

Der Fahrdienstleiter Michael P. musste sich für die fahrlässige Tötung von zwölf Menschen vor dem Landgericht Traunstein verantworten.

Der Fahrdienstleiter Michael P. musste sich für die fahrlässige Tötung von zwölf Menschen vor dem Landgericht Traunstein verantworten. © dpa