Im Impfstreit
Bayerns Koalition steckt in einer tiefen Krise
2.8.2021, 18:04 UhrEs ist ein Kampfbegriff, den die AfD bemüht, und den Donald Trump erfolgreich als Waffe eingesetzt hat auf seinem Weg ins Weiße Haus. Für beide ist "das politische Establishment" der natürliche Feind. Es ist ein Begriff, den neuerdings auch Hubert Aiwanger verwendet.
Nun lässt sich bei Aiwanger fragen, wo genau er sich selbst gegen das Establishment abgrenzt, er, der bayerischer Vizeministerpräsident ist, Wirtschaftsminister, Stadtrat, Kreistagsmitglied und Landtagsabgeordneter, Chef der Freien Wähler in Bayern und im Bund, und jetzt auch noch ihr Spitzenkandidat für Berlin. Mehr politisches Establishment geht eigentlich nicht. Außer, wenn es ums Impfen geht.
Das Establishment
Er sehe seine Verantwortung darin, sagt Aiwanger, "nicht alles zu tun, was die Mehrheit von mir fordert, was das politische Establishment von mir verlangt". Der 50-Jährige schreibt sich selbst die Rolle zu als "Vorbild für die Verteidigung selbstverständlicher Bürgerrechte". Wer die gefährdet, Aiwanger sagt es nicht, auch nicht in jenem denkwürdigen 17-Minuten-Interview des Deutschlandfunks, das seine Parteifreunde in Schockstarre versetzt hat. Doch der Adressat ist klar: Markus Söder, seines Zeichens CSU-Chef und Ministerpräsident. Und eigentlich Aiwangers Koalitionspartner.
Nicht nur in der CSU verfolgen sie besorgt, wie der Streit zwischen Aiwanger und Söder eskaliert, seit Söder seinen Vize geoutet hat als Impfverweigerer. Zunächst hatte Aiwanger für sich in Anspruch genommen, dass dies seine Privatangelegenheit sei, die niemanden etwas angehe. Inzwischen allerdings treibt er das Thema bewusst und öffentlich voran. Er wisse im Bekanntenkreis "von immer mehr Fällen, die massive Nebenwirkungen auszuhalten haben", sagt Aiwanger dann. "Da bleibt einem schon die Spucke weg." Belege bleibt er schuldig. "Ich will die Dinge gar nicht aufzählen", sagt er stattdessen bedeutungsschwanger.
Besserer Impfstoff?
Mal zweifelt er an der Wirksamkeit der Impfstoffe, mal warnt er davor, "die Jagd aufzunehmen auf die, die nicht geimpft sind". Er gehe "davon aus, dass bessere Impfstoffe kommen und die jetzigen in ein paar Jahren anders bewertet werden", sagt er auch noch. Und einiges mehr.
Dass Aiwanger beim Thema Corona eine andere Linie fährt als sein Koalitionspartner Markus Söder, ist nicht neu. Die Aufgaben waren verteilt zwischen den beiden, der CSU das Ganze gar nicht so unrecht. Aiwanger fing die ein, denen Söders Corona-Linie zu hart war. Im Kabinett stimmte er gleichwohl stets für sämtliche Maßnahmen. CSU und Freie Wähler stehen sich politisch nahe; beide sehen sich als modern-konservative Parteien. Das Wechselspiel der Kräfte zwischen Söder und Aiwanger hielt sich in der Balance.
Störfeuer
Das ist vorbei. Seit Aiwanger offen im AfD-Lager fischt, kracht es zwischen ihm und Söder. Der will nicht hinnehmen, dass sein Vize von "Impfapartheid" spricht und in Interviews die Impfkampagne schlecht redet, sie sabotiert. Jene Impfkampagne, wohl gemerkt, die seine eigene Regierung auf die Beine gestellt hat.
Aiwangers Störfeuer kommt selbst bei den eigenen Leuten nicht gut an. "Ich halte seine Denkweise für falsch", sagt Peter Bauer, Landtagsabgeordneter der Freien Wähler aus Ansbach und Patientenbeauftragter der Regierung. "Jeder nicht Geimpfte ist eine potenziell tödliche Gefahr für die, die sich nicht impfen lassen können", sagt er. "Das muss einem doch bewusst sein", also auch Aiwanger.
Nicht klug
Bauer geht mit seinem Parteichef hart ins Gericht, "aus Verantwortung vor meinem Gewissen", sagt er. Dass die Impfstoffe dramatische Nebenwirkungen zeigten, wie von Aiwanger behauptet, "erstaunt" Bauer, der selbst Mediziner ist. "Mir ist in der weltweiten Impfkampagne mit vielen Millionen Geimpften derlei nicht bekannt." Dass Aiwanger da "einfach etwas in den Raum stellt, halte ich nicht für klug."
Und Söder? Macht sich im Spiegel "Sorgen um ihn". Warnt, wer glaube, sich "bei rechten Gruppen und Querdenkern anbiedern zu können, verlässt die bürgerliche Mitte". Sagt im ZDF, dass "Aiwanger sich in eine Ecke manövriert, aus der er selber nicht mehr herauskommt". Vergleicht Aiwangers Wortwahl mit der von AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel, die sich auch nicht impfen lässt. Und fügt hinzu, wer "an irgendeinem Rand" nach Wählerstimmen fische, erliege einem "totalen Trugschluss. Die Leute wählen am Ende richtige Querdenker".
Unverschämtheit
Aiwanger keilt zurück, spricht von Falschbehauptungen Söders und von einer "Unverschämtheit, mich als Querdenker abstempeln zu wollen". Doch wer seinen Facebook-Auftritt verfolgt und die Kommentare liest, stellt schnell fest, dass der Beifall vor allem aus ihrer Ecke kommt.
Für die Freien Wähler wächst sich das zu einem ernsthaften Problem aus. Zwar lockt Aiwanger neue Mitglieder in die Partei. Doch die Zahl derer, die kopfschüttelnd die Partei verlassen, wächst schneller. Peter Bauer beobachtet das in seinem Ortsverein, aber nicht nur dort. Andere berichten, die Austrittswelle laufe bundesweit. "Das ist ein Nullsummenspiel", sagt ein Spitzenmann.
Derweil wächst der Druck auf Aiwanger. CSU-Fraktionschef Thomas Kreuzer, politisch ein gewichtiger Teil des Establishments, legt im Münchner Merkur dem Freie-Wähler-Chef nahe, er solle "sich überlegen, ob er stellvertretender Ministerpräsident bleiben kann". Kreuzer droht offen den Freien Wählern. "Selbstverständlich sind auch andere Koalitionen denkbar", sagt er.
"Deutlich verschärft"
Dass CSU und Freie Wähler sich um Deeskalation im Streit zwischen Söder und Aiwanger bemühten, wie es ein Spitzenmann formuliert hat, lässt Kreuzer nicht vermuten. "Klar", sagt FW-Fraktionschef Florian Streibl, habe sich der Ton zwischen Söder und Aiwanger "deutlich verschärft." Aber es sei "im Grunde eine Sache zwischen beiden"; zwischen den Fraktionen und den Parteien laufe die Zusammenarbeit sehr gut.
Es wird sich zeigen, wie Aiwanger reagiert. Am Wochenende haben ihm Parteifreunde ins Gewissen geredet, oder sie haben es versucht. Aiwangers Werben um die Impfskeptiker behagt den meisten in den eigenen Reihen nicht. Doch Aiwanger hat mehrfach bewiesen, dass er sich nur schwer disziplinieren lässt.
Dabei kommt der Druck nicht mehr nur aus der Politik. Auch die Wirtschaftsverbände gehen auf Distanz zum bayerischen Wirtschaftsminister. Eng war ihr Verhältnis nie. Doch jetzt kritisieren ihre Verbände ihn deutlich. Seine Kampgane stehe "im krassen Widerspruch zu allen medizinischen Erkenntnissen", schreiben sie. Aiwanger solle "seine wirtschaftsfeindliche Klientelpolitik beenden." Offensichtlich hat Aiwanger nicht mehr nur das politische, sondern auch das wirtschaftliche Establishment gegen sich.
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