Belgiens seltsame Küste: Mit der Tram am Meer entlang

13.2.2021, 07:34 Uhr
Die Küstentram an einem der schöneren Streckenabschnitte - einem Bootshafen bei Oostende.

© www.viennaslide.com, NN Die Küstentram an einem der schöneren Streckenabschnitte - einem Bootshafen bei Oostende.

Sicher, es gibt in Europa empfehlenswertere Küsten als ausgerechnet die belgische. Wer von der Nordsee aus landeinwärts blickt, der sieht ein endloses, fast lückenloses Band vielstöckiger Appartementbauten der hässlichsten Art. Das schöne Stück Strand davor kann kaum entschädigen für die sich auftürmenden Gebäude, die Balkonwaben, die sterilen gepflasterten und zum Verwechseln ähnlichen Promenaden, die in Reih und Glied angetretenen Strandhäuschen, die auf Erholungssüchtige warten.

Die Belgier aber nehmen es pragmatisch und betrachten das knapp hundert Kilometer lange und dicht besiedelte Stück Land als eine einzige zusammenhängende Stadt. Mit Oostende in ziemlich genau der Mitte; rechts davon die Trabanten Bredene, De Haan, Wenduine, Blankenberge, Zeebrüge, Heist und Knokke, links dann Middelkerke, Lombardsijde-West-ende, Nieuwport, Ostduinkerke, Koksijde und De Panne. Das mögen, jeder Ort für sich genommen, einst klingende Namen mondäner Seebäder gewesen sein. Nur fällt es heute außerordentlich schwer, noch irgendetwas von diesem Charme zu entdecken.

Hier fährt sie immer am Strand entlang. 

Hier fährt sie immer am Strand entlang.  © www.viennaslide.com, NN

Wer von Brügge, dieser einzigartig erhaltenen und gepflegten Stadt mit ihrer aus rotem Backstein gezimmerten Melancholie kommt, der ist wie erschlagen von der Monotonie und von der Sorglosigkeit, mit der hier an der Nordsee mit dem Erbe umgegangen wurde. Die wenigen noch erhaltenen Jugendstil-Bauten sind nurmehr herausgeputzte Staffage, bunt bemalte Postkarten-Idyllen, die von einer alten Zeit künden, die rücksichtslos verleugnet wird. Die Villen und geretteten Hotels der vergangenen Jahrhundertwende stehen längst in langweiligen Fußgängerzonen und stets zwischen Neubauten, die ihnen auf den Putz rücken.

Während man also in Brügge mit der Vergangenheit einen Kontrakt geschlossen hat, wurde sie an der Küste gleich gänzlich aus dem Gedächtnis gelöscht. Es gibt hier kaum noch Momente und Orte, an denen man verweilen möchte und könnte; alles ist auf eine seltsam konsequente Art für jegliche Art des Durchgangsverkehrs eingerichtet. Breite Straßen, schnelle elektrische Bahnen, Bettenburgen, in denen ein ständiger, rentabler Wechsel stattfinden muss. Hätte man Macht über das Meer, man würde wohl auch noch den Gezeiten einen schnelleren Takt verordnen.

Und doch: Diese Küste Belgiens lockt alljährlich Hunderttausende an, die hier am perfekt organisierten Strandleben teilnehmen. Kehrt man dem Beton den Rücken, hat man schließlich das Meer vor sich und die Illusion, irgendwie allein auf der Welt zu sein. Das ändert sich spätestens, wenn man wieder zurück an Land kommt und sich einreiht in die Masse der Touristen, die in die unzähligen Restaurants der Küstenorte mit ihren sich wiederholenden Angeboten drängen. Mit falschem Fischerdorfambiente und mit hohen Preisen bittet man zu Tisch: frische Muscheln mit Pommes frites – etwas gewöhnungsbedürftig, aber für knapp 20 Euro überall zu haben.

Diese Attraktion lohnt die Anreise

So betrachtet, mag dieser Landstrich zwischen den Niederlanden und Frankreich nicht unbedingt eine Reise wert sein. Wäre da nicht eine Attraktion, die es nun wirklich nur hier gibt. Vom ehemals berühmten Seebad Knokke bis zum verblichenen Glanz von De Panne verkehrt die „Kusttram“ – eine ganz normale Straßenbahn, deren Reiz sich aber schon nach wenigen Kilometern als einzigartig herausstellt: Wo sonst auf der Welt kann man mit der Tram gemütlich am Meer entlangzuckeln? Und drückt man einfach so den Halteknopf und steigt irgendwo mittendrin aus, dann steht man ganz allein in den Dünen. Das Meer ist von fast jeder der 69 Haltestellen nur ein paar Meter entfernt.

Die Bahn am Meer.

Die Bahn am Meer. © YVES BOUCAU, NN

Am Endpunkt in Knokke wartet der Zug, der aussieht wie jede moderne Niederflur-Straßenbahn in jeder modernen Großstadt. Für fünf Euro gibt es ein Tagesticket, und an den Haltepunkten steigen meist Einheimische zu: früh am Morgen sind es Arbeiter, die zu den Werften und Häfen entlang der Küste fahren, tagsüber sieht man Hausfrauen, unterwegs zu Einkaufszentren, die aufgereiht links und rechts der Bahntrasse liegen; am Nachmittag lärmen die Jugendlichen ein paar Stationen lang: die „Kusttram“ ist ein Alltags-Verkehrsmittel, das zuverlässig auch in diesen lockdownbestimmten Tagen im Zehn-Minuten-Takt verkehrt; sie ist das Rückgrat dieser endlosen Küstenstadt.

Und so fallen hier nur Touristen wirklich auf, die erwartungsfroh an die Fenster gedrückt mit ihren Fotoapparaten auf Tour gehen. Sie werden geduldig die ganze Fahrt mitmachen, zweieinhalb Stunden lang, und das Gefühl genießen, die längste Straßenbahnstrecke der Welt zu erleben. Unterwegs sieht man sie immer wieder mal aussteigen, an Haltestellen, die wie zufällig und nutzlos mitten in der freien Landschaft liegen. Dann geht es nur ein paar Holzstufen hinauf zu den Dünen.

Die „Kusttram“ ist über 125 Jahre alt und ein Überrest des ehemaligen Netzes der belgischen Straßenbahngesellschaft, das das kleine Land erschließen sollte. 1885 wurde der erste Streckenabschnitt zwischen Oostende und Nieuwpoort eröffnet, 1890 schon konnte man nordostwärts bis nach Knokke fahren. Anfangs verkehrte der Zug noch unter Dampf, später mit Benzin, mit der Elektrifizierung wurde 1912 begonnen.

Der Bahnhof von De Haan - hier sieht man noch historische Substanz.

Der Bahnhof von De Haan - hier sieht man noch historische Substanz. © www.viennaslide.com, NN

Heute müht sich die Tram meist durch Innenstädte, quert langweilige Vororte, hält an Media-Centers, Sealife-Themenparks, Center Parks oder Campingplätzen, weicht in weiten Bögen Hafenanlagen aus. Es gibt aber noch ein paar Relikte aus den Anfangszeiten der Tram: liebevoll gestaltete kleine Haltepunkte als Unterstellhäuschen aus bemaltem und geschnitztem Holz. Und kurz hinter Oostende in Richtung Middelkerke ist noch für ein paar Kilometer der Streckenabschnitt, der direkt am Meer entlangführt. Linker Hand die hohen Dünen, rechts das Wasser: Haltestelle und Strand gehen fast nahtlos ineinander über. Möwen hocken auf den Bahnsteigen, und bei Flut reicht das Meer fast bis zum Schild mit dem Fahrplan.

Mehr Informationen:
Belgische Küste (eine Unterseite von belgium.be, der offiziellen Tourismusorganisation)
www.belgischekueste.be/de
Tel.: 02 21 / 27 75 90
Anreise:
Nürnberg nach Oostende per Auto 725 Kilometer. Ab Nürnberg bietet die Bahn im Zweistundentakt bequeme Verbindungen an, mit denen man Oostende mit zweimaligem Umsteigen in gut 7 (!) Stunden erreicht. Beispiel: Abfahrt in Nürnberg um 8:00, Umstieg in Frankfurt und Brüssel, Ankunft in Oostende um 15:16 (Standardfahrplan, ohne baustellen- und coronabedingte Einschränkungen).
Reisehinweis:
Derzeit gilt eine Reisewarnung des Auswärtigen Amtes für Belgien, eine Quarantäne bei Grenzübertritt kann nötig sein. Tagesaktuelle Informationen finden Sie unter www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/belgien-node/belgiensicherheit/200382.

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