Darum lassen sich Corona-Zahlen von Frühling und Herbst nicht vergleichen
31.10.2020, 05:03 UhrMit Zahlen ist das so eine Sache. Oft sind sie abstrakt. Manchmal schwer einzuordnen. Erst im Vergleich macht vieles Sinn. Ob ein Mann, mit 1,80 Metern Körpergröße groß oder klein ist, liegt im Auge des Betrachters. Eine Frau mit 1,60 muss hinaufschauen, ein Mann mit 1,90 hinunter. Dabei sind Männer im Durchschnitt in Deutschland genau 179,9 Zentimeter groß. In Indien liegt diese Zahl dagegen bei 164,9. Alles eine Frage der Perspektive.
Bei der Corona-Pandemie kursieren zurzeit jede Menge Zahlen. Sie wirken bedrohlich und sind verwirrend. Aber sie sind ein Versuch, die Lage irgendwie greifbar zu machen. Sie lassen die Situation in Städten und Landkreisen vergleichen, in Bundesländern, in Europa und weltweit. Sie warnen anhand verschiedener Parameter vor der Ausbreitung der Infektion. Sie zeigen, wie viele Menschen bislang in Verbindung mit dem neuartigen Virus gestorben sind und ob das mehr sind als sonst in einem Jahr.
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Doch Zahlen können auch trügen. Wer mehr testet, findet mehr positive Corona-Fälle. Ohne Symptome wären einige davon sonst wohl unentdeckt geblieben. Im Frühjahr war das vermutlich noch so. Deshalb ist es schwierig, die Infektionszahlen von April mit Oktober zu vergleichen, den Mai mit dem September. Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht inzwischen von einer hohen Dunkelziffer auch schon zu Beginn der Pandemie in Deutschland aus. So könnte es bereits im Mai 60.000 Neuinfektionen pro Tag gegeben haben.
Im April sanken die Zahlen - jetzt steigen sie
Im Vergleich dazu wirken die aktuell dokumentierten 19.000 pro Tag geradezu gering. Aber auch jetzt weiß niemand, wie hoch die Dunkelziffer ist. Ein wesentlicher Unterschied bleibt: Im April sind die Zahlen gesunken. Aktuell steigen sie. Damals diskutierten Politiker über mögliche Lockerungen. Nun sollen wieder strengere Maßnahmen zum Infektionsschutz greifen.
Dass das Geschehen im Frühling und Herbst nicht vergleichbar ist, zeigt auch die Dynamik der Neuinfektionen. Vor den Ausgangsbeschränkungen im März lag die Reproduktionszahl R der vergangenen sieben Tage noch höher als drei. Das bedeutet, dass ein Infizierter im Mittel mehr als drei weitere Personen angesteckt hat. Aktuell liegt der Sieben-Tage-Wert laut RKI bei 1,17. Das Virus breitet sich also langsamer aus.
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Doch auch R ist nur eine Schätzung. "Die Reproduktionszahl kann nicht alleine als Maß für Wirksamkeit/Notwendigkeit von Maßnahmen herangezogen werden", schreibt das RKI. "Wichtig sind außerdem unter anderem die absolute Zahl der täglichen Neuinfektionen sowie die Schwere der Erkrankungen." Auch die Experten ordnen die Bedeutung der Zahlen also immer wieder ein und setzen sie in ein Verhältnis. "Die absolute Zahl der Neuinfektionen muss klein genug sein, um eine effektive Kontaktpersonennachverfolgung zu ermöglichen und die Kapazitäten von Intensivbetten nicht zu überlasten."
Mehr Intensivbetten als im Frühjahr
Im Vergleich im Frühjahr gibt es nun mehr Intensivbetten und Beatmungsgeräte in Deutschland. Die Gesundheitsämter haben zusätzliches Personal eingestellt und bekommen Hilfe von der Bundeswehr, um Kontaktpersonen zu informieren. Die Behörden versuchen, schneller zu sein als das Virus und es durch Quarantäne-Maßnahmen aufzuhalten bevor es sich weiterverbreiten kann.
Zahlen können dabei auch den Erfolg messen. Wenn etwa Landratsämter melden, dass sie nur zwei Drittel der neuen Infektionen nachvollziehen können, ist das zu wenig, um die Ausbreitung zu bremsen. Der besonders betroffene Berliner Stadtteil Neukölln ist sogar dazu übergegangen nur noch Personen aus systemrelevanten Berufen wie medizinisches Personal und Risikogruppen per Anruf über einen Kontakt zu informieren.
Neukölln gibt auf
Die zuständige Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci appelliert deshalb an die Eigenverantwortung der Bürger: "Wenn ein positiver Fall bekannt wird, gehe ich in Selbstisolation und warte nicht, bis jemand kommt und mir das anordnet, sondern: Ich bin verpflichtet, zu Hause zu bleiben."
Es liegt also auch an jedem Einzelnen, die Zahlen einzuordnen und entsprechend zu handeln. Auch Experten passen dabei ihr Vorgehen immer wieder an und versuchen aussagekräftigere Parameter zu finden. So beschreibt etwa die Positivrate den Anteil positiver Tests an der Gesamtzahl aller durchgeführten Tests. Sie steigt seit August kontinuierlich an.
Wissenschaftler des ifo-Instituts, des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung der Uni München, haben sich mit der Debatte um die Neuinfektionen im Herbst befasst: "Vergleichen wir Äpfel mit Birnen?", fragen sie sich. "Während viele Politiker vor wachsenden Gefahren warnen, werfen Kritiker ihnen Panikmache vor." Dabei sei gerade eine ausgewogene und realistische Interpretation der Infektionslage wichtig, um angemessene Reaktionen sowohl der politischen Entscheidungsträger als auch der Akteure des Wirtschaftslebens zu ermöglichen.
Deshalb haben die Autoren um Florian Dorn eine Simulation entwickelt, um die Zahlen von Frühling und Herbst in eine sinnvolle Relation zu setzen. Sie kommen zu dem Schluss, "dass die aktuellen Zahlen tatsächlich für ein verstärktes und steigendes Infektionsgeschehen sprechen". Sie sprechen sich dafür aus, weiterhin viele Tests durchzuführen, "um den Verlauf der Epidemie besser verfolgen und bewerten zu können".
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