"Echt sprachlos": Angriffe auf Rettungskräfte nehmen zu
8.5.2018, 05:52 Uhr"Ich bin echt sprachlos, so etwas habe ich noch nicht erlebt", sagt Michael A. Seinen richtigen Namen möchte der Nürnberger Notarzt nicht veröffentlichen, weil er seine Familie schützen will. Der vorletzte Freitag hat Spuren hinterlassen.
Am Abend wurden er und sein Team zur Pegnitzwiese in Nürnberg gerufen, eine Person sei bewusstlos, hieß es. Es sah alles nach einem ganz normalen Einsatz aus - bis die Rettungskräfte am Einsatzort ankamen. "Die Stimmung war bei unserer Ankunft schon angeheizt und ist dann weiter hochgekocht", erklärt Sophia B. (Name von der Redaktion geändert).
Im Rettungswagen verschanzt
Sie ist ehrenamtliche Sanitäterin, opfert ihre Freizeit, um Menschen in Not zu helfen. An diesem Wochenende ist sie extra aus Regensburg angereist, um den Kollegen aus Nürnberg unter die Arme zu greifen. Als die Retter einer Frau, die unter Atemnot litt, zu Hilfe eilten, eskalierte die Situation: "Wir haben Verteidigungshaltung eingenommen und uns in den Rettungswagen zurückgezogen. Es gab Tritte und Schläge", erinnert sich Michael A. Das Team habe ihn und die Patienten so gut es ging abgeschirmt. Selbst als sich die Rettungskräfte im Einsatzwagen verschanzten, hörten die Angreifer nicht auf. "Es war ein seltsames Gefühl, eine Patientin, die Hilfe dringend nötig hatte, zu behandeln, während draußen vor der verriegelten Tür eine Menschenmenge schreit und auf den Rettungswagen trommelt", so der Notarzt.
Es ist nicht das erste Mal, dass Retter im Einsatz angegriffen werden - nicht einmal in dieser Woche. Nur wenige Tage vor dem Fall in Nürnberg attackierten Jugendliche Feuerwehr und Rettungskräfte im Englischen Garten in München. Sie wurden eigentlich zu einem Menschen gerufen, der reanimiert werden musste. Den fanden sie unter den rund 1000 feiernden Jugendlichen aber nicht. Stattdessen aber eine Frau mit Alkoholvergiftung. Als die Sanitäter sie im Rettungswagen versorgen wollten, kletterten rund 15 Randalierer auf das Fahrzeug, schüttelten den Wagen, beleidigten die Einsatzkräfte und bewarfen sie mit Flaschen. Erst als eine Hundertschaft Polizisten den Rettern zur Hilfe kam, ließen sie von ihnen ab.
Es ist wenig, was von diesen Nächten bleibt. Die Schäden an den Fahrzeugen werden ausgebessert, die Polizisten haben ihre Berichte geschrieben. Was bleibt, ist eine Frage - und die Angst. "Warum tut man so etwas?", fragt Notarzt Michael A. "Ich verstehe die Intention dahinter überhaupt nicht." Nicht zu wissen, warum sie angegriffen werden, nicht zu wissen, wann es wieder passieren könnte, trifft die Retter hart.
Härter vielleicht als die Schläge, die sie einstecken mussten. "Früher waren wir immer die Guten. Die Leute waren meist erleichtert, wenn sie uns sahen, haben vielleicht sogar geholfen", erklärt A. "Dass man sich jetzt überlegen muss, in der Schule zu lehren, dass man Helfer helfen lässt, ist unglaublich." Michael A. sagt: "Wir haben uns danach im Team alle kurz die Frage gestellt: "Warum machen wir das noch?"
Kollegen geschlagen
Dabei ist der Arzt und Notarzt niemand, der sich leicht beeindrucken lässt, dafür macht er seinen Job schon zu lange. "Ich habe in meinem Beruf viel mit Alkohol- und Drogenvergifteten zu tun. Da ist man froh, wenn man am Tag nur einmal ,Arschloch‘ genannt und nicht geschlagen wird." Einer seiner Kollegen, erzählt er, wurde sogar schon einmal bewusstlos geschlagen. "Natürlich hat man bei den nächsten Einsätzen Beklemmungen, vielleicht sogar Angst. Ich überlege mir schon, ob ich, wenn ich das nächste Mal zur Theodor-Heuss-Brücke gerufen werde, nicht erst die Polizei rufe", so A.
In den USA sei es bereits selbstverständlich, dass bei einem Einsatz erst Polizisten die Lage klären, bevor die Rettungskräfte zum Patienten gehen. "Es kann doch nicht sein, dass wir das auch so handhaben müssen", empört er sich.
Ein zusätzliches Problem: Rund 20 Prozent der Rettungskräfte - in Ballungsräumen wie Nürnberg oder München sind es mehr - arbeiten ehrenamtlich. Denn die Krankenkassen bezahlen nur 80 Prozent der hauptamtlichen Stellen, die notwendig sind, um die Versorgung sicherzustellen, erklärt Michael Seitz, Vorstandsreferent der Johanniter Mittelfranken.
Die ohnehin schon nicht einfache Aufgabe, Menschen zu überzeugen, in ihrer knappen Freizeit im Schichtbetrieb Menschen zu helfen, wird durch solche Vorfälle nur noch schwerer. "Das ist ein Riesenproblem", erklärt Michael A. "Wir werden bespuckt, bepöbelt und beschimpft. Wie soll man nach solchen Vorfällen noch Ehrenamtliche motivieren, sich zu engagieren?"
Sophia B. will sich durch den Angriff nicht entmutigen lassen. "Ich fühle mich in meinem Ehrenamt wohl", erzählt sie. "Da weiß man, dass man keinen Blödsinn macht. Vielleicht sollten das die Jugendlichen vom Freitag auch mal machen." Um sie und ihre Kollegen besser zu schützen, bieten die Johanniter verpflichtende Fortbildungen an.
In Deeskalationsseminaren lernen die Rettungskräfte, wie man sich in einer Stresssituation defensiv verhält, wie man die richtigen Worte wählt - und sich im Notfall schnell zurückziehen kann. "Wir werden so ein Seminar jetzt auf jeden Fall wieder durchführen", erklärt Michael Seitz.
Ob die Gewalt gegen seine Kollegen zugenommen hat, kann er nicht sagen. Die Johanniter führen darüber keine Statistik, anders als das Bayerische Rote Kreuz. Im vergangenen Jahr habe es beim BRK 150 Fälle gegeben, so Pressesprecher Jens Forstmann. Bei fast 1,9 Millionen Einsätzen ergebe das aber lediglich eine Quote von knapp 0,1 Prozent. Experten vermuten bei den Übergriffen eine deutlich höhere Dunkelziffer. Erst bei gravierenden Vorfällen informieren Betroffene ihre Vorgesetzten. So ergab 2017 eine Umfrage unter 600 Rettungskräften, dass im Schnitt jeder Dritte "sehr oft verbale Gewalt", jeder Zehnte häufig physische Gewalt im Dienst erlebe.
Alkohol als Auslöser
Michael Seitz von den Johannitern erkennt eine klare Tendenz: "Der Respekt vor uns hat abgenommen. Verbale Attacken, blödes Anreden, anspucken und jetzt das - das wäre vor 25 Jahren undenkbar", findet er. Erklären könne man es möglicherweise über eine voranschreitende gesellschaftliche Verrohung und zunehmenden Alkoholkonsum.
Das sieht Michael Meyer ähnlich. Der 59-jährige Nürnberger ist ehrenamtlicher Rettungsassistent. "Vor allem Freitagnacht ist das eine ganz andere Nummer. Der Respekt geht verloren, das merkt man alleine daran schon, dass wir immer geduzt werden." Gewalt kennt auch er nur allzu gut. "Ich bin vorsichtiger geworden. Ich checke erst die Gefahr für mich und kümmere mich dann um den Notfall. Das war früher anders."
Auch die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns, die Dienstpläne für Notärzte und Bereitschaftsdienste organisiert, hat reagiert. Bis Ende 2018 soll jeder Arzt, der im Bereitschaftsdienst zu Hausbesuchen fährt, einen Fahrer an die Seite gestellt bekommen.
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