Aus dem dunklen Vergessen: Die "Euthanasie"-Opfer aus Erlangen

3.6.2020, 16:40 Uhr
Im Alter von 13 und 14 Jahren starben die Zwillingsschwestern Johanna und Mathilde in der Heil- und Pflegeanstalt Erlangen. Ihr Bruder Emmeran Christ hat nur wenige Fotos.

© Foto: Harald Sippel Im Alter von 13 und 14 Jahren starben die Zwillingsschwestern Johanna und Mathilde in der Heil- und Pflegeanstalt Erlangen. Ihr Bruder Emmeran Christ hat nur wenige Fotos.

Ich, Mathilde Christ, klage an, dass ich am 5.9.1941 nach zweijähriger Leidenszeit grausam ermordet wurde. Ich, Johanna Christ (Zwilling), klage an, dass ich am 29.7.1942 nach dreijähriger Leidenszeit grausam ermordet wurde."

In der Heil- und Pflegeanstalt (Hupfla) in Erlangen verloren zahlreiche Menschen ihr Leben. In Zukunft soll das Gebäude als Erinnerungsstätte dienen. 

In der Heil- und Pflegeanstalt (Hupfla) in Erlangen verloren zahlreiche Menschen ihr Leben. In Zukunft soll das Gebäude als Erinnerungsstätte dienen.  © Foto: Harald Sippel

Diese Sätze stehen in einem Brief an unsere Zeitung. Emmeran Christ, der Bruder der beiden Mädchen, gibt seinen Schwestern posthum eine Stimme. "Niemand sonst kümmert sich um diese armen Seelen." Sein ganzes Sehnen und Streben ist ausgerichtet darauf, dass eine Gedenkstätte errichtet wird für die Zwillingsschwestern, die in der Heil- und Pflegeanstalt in Erlangen starben. Endlich Gedenken, nach so vielen Jahren des Vergessens und Verdrängens.


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Mathilde und Johanna sind zwei von über 300 000 Menschen, die unter den Nationalsozialisten ermordet wurden, weil sie – wirklich oder vermeintlich – behindert oder psychisch krank waren und als "lebensunwert" eingestuft wurden. "Euthanasie", den "guten Tod", nannten die Täter den Mord und bedienten sich dabei eines beschönigenden Ausdrucks aus der Antike. Als "Probelauf zum Holocaust" gelte das Töten durch Gas, das zuerst bei den "Euthanasie"-Opfern praktiziert wurde, sagte im Januar 2017 Norbert Lammert, damals Bundestagspräsident, in seiner Rede zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus. Doch das Töten durch Gas in Tötungsanstalten war nur die erste Phase des Mordens, nach 1941 wurde es in den Heil- und Pflegeanstalten fortgesetzt – durch Verhungern, falsche Medikamente und das Setzen von Giftspritzen. Nur ein kleiner Teil der beteiligten Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern sei nach 1945 vor Gericht gestellt worden, so Lammert, erschütternd sei auch die jahrelange Gleichgültigkeit in Wissenschaft, Medien und Politik.

Das zumindest hat sich geändert. Die NS-Krankenmorde werden inzwischen stärker ins Licht der Öffentlichkeit gerückt, auch in Erlangen, wo Mathilde und Johanna Christ starben und wo im vergangenen Jahr um den Erhalt beziehungsweise Abriss des letzten Patientengebäudes der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt, der früheren Universitätspsychiatrie, gerungen wurde. Der Kulturwissenschaftler Jörg Skriebeleit, der die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg leitet, wurde von der Stadt Erlangen und dem Universitätsklinikum beauftragt, eine Konzeption für eine Erinnerungsstätte zu erarbeiten. Es soll nun ein repräsentativer Lern- und Gedenkort eingerichtet werden, der eine Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bilden und ethische Aspekte in den Mittelpunkt stellen soll. In Kürze wird Jörg Skriebeleit das Konzept vorstellen.

Angelaufen ist jedoch bereits ein gemeinsames Forschungsprojekt des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an der Friedrich-Alexander-Universität und des Stadtarchivs Erlangen. Auch Einzelschicksale sollen dargestellt werden, Zeitzeugen werden hier weiterhin gesucht. Und es bildet sich gerade eine Angehörigeninitiative. Initiator ist Silas Ubrich, der auch in einer im Jahr 2015 in München gegründeten Angehörigeninitiative für die Opfer der NS-Krankenmorde aktiv ist. Ubrichs Urgroßmutter wurde aus der Erlanger Heil- und Pflegeanstalt in die Tötungsanstalt in Schloss Hartheim bei Linz gebracht und dort getötet. Die Angehörigeninitiative in München trifft sich regelmäßig im dortigen NS-Dokuzentrum, um sich bei der Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichten zu unterstützen. Sie will mehr Aufklärung und öffentliches Erinnern. Das möchte Ubrich nun auch für Erlangen anstoßen. Ein Vorhaben ganz im Sinne von Emmeran Christ.

"Ein stiller dunkler Ort, unsere Namen in hellem Licht": Ins Licht zurückholen aus dem dunklen Vergessen will Emmeran Christ seine beiden Schwestern Mathilde und Johanna, er sieht das als seine Aufgabe an – als eine Verpflichtung. Wenn er über sie spricht, bricht er in Tränen aus. In sein eigenes Leben zurückgekehrt sind sie im vergangenen Herbst. Damals fand er ihre Bilder. Auf dem Dachboden, ganz unten in einem Karton. Der war weitergereicht worden, von seinen Eltern an seine ältere Schwester. Und dann an ihn. Er ist der letzte noch lebende direkte Angehörige der toten Mädchen. Das Geschehene lastet schwer auf ihm.


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Heute weiß der 80-Jährige, der inzwischen in Schwabach wohnt, dass die beiden Mädchen am 12. Juli 1929 geboren wurden. Nicht einmal das wusste er bis vor kurzem, ebenso wenig wie ihre genauen Sterbedaten. Die Zwillingsschwestern waren fast elf Jahre älter als er selbst, eine Erinnerung an sie hat er nicht. Auf den Fotos kann er sie nicht unterscheiden, auch wenn sie durchaus unterschiedlich aussehen. Welches der abgebildeten Kinder ist Johanna, welches Mathilde? Sie starben, als Emmeran Christ noch ein kleines Kind war. In der Familie war es, als hätte es sie nie gegeben. "Es wurde nichts geredet, gar nichts", sagt er. Weil das Leid nur so auszuhalten war, vermutet er. "Und wahrscheinlich haben sich auch alle geschämt." Denn die beiden Kinder waren geistig behindert, "aber nur leicht, zu wenig Sauerstoff bei der Geburt", erklärt Emmeran Christ.

Die Familie lebte in einem Dorf bei Feuchtwangen. Die Töchter Mathilde und Johanna habe man in einer Behinderteneinrichtung, im Kloster Absberg bei Ansbach, untergebracht, von dort seien sie nach Erlangen in die Heil- und Pflegeanstalt gebracht worden, erzählt Emmeran Christ, während er die Schwarz-Weiß-Fotografien der Mädchen in der Hand hält. Später, im Jahr 1948, sei sein Vater mit ihm nach Erlangen gefahren und auf den Altstädter Friedhof gegangen, dort war das Grab der Schwestern. Man blickte auf den Ludwigskanal und der Vater weinte. Er habe gesagt, "in dem Grab ist wahrscheinlich niemand drinnen", erinnert sich Emmeran Christ. Die Mutter habe zuhause im Dorf ein Scheingrab angelegt, dort sei sie mit ihm hingegangen und habe gebetet.


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Doch tatsächlich waren die Schwestern in Erlangen beerdigt worden, wie ein Eintrag im Standesamt nachweist, so die Auskunft des Stadtarchivs. Emmeran Christ erfährt endlich die genauen Todesdaten. Und auch, dass es zu beiden Mädchen eine Akte im Staatsarchiv Nürnberg gibt. Es kommt langsam Licht in die Vergangenheit. Emmeran Christ will Einblick in diese Akte nehmen.

Denn es bleiben noch Dinge aufzuklären. Emmeran Christ will wissen, wie seine Schwestern starben. Kurz vor ihrem Tod vor ein paar Jahren hat seine ältere Schwester ihm davon erzählt. Ein einziges Mal. Sie habe eine Schulfreundin gehabt, die in der Erlanger Heil- und Pflegeanstalt arbeitete, sagte sie ihm. Und die habe ihr nach Kriegsende mitgeteilt, dass an den Zwillingsschwestern grausame Experimente gemacht worden seien. Es gebe bisher keinen Hinweis darauf, dass in Erlangen Menschenversuche gemacht worden seien, sagen jedoch die Forscher der FAU. Im Prozess gegen Wilhelm Einsle, den damaligen Anstaltsdirektor, sei der Hinweis einer Zeugin als nicht haltbar zurückgewiesen worden.

In München ist 2018 im Auftrag des NS-Dokuzentrums und unter Einbeziehung der Angehörigeninitiative ein Gedenkbuch entstanden, das an die Opfer erinnert. Das Forschungsprojekt in Erlangen hat, daran anknüpfend, Ähnliches vor. Auch hier soll der längst überfälligen Erinnerung in einem Gedenkbuch Raum gegeben werden. Emmeran Christ weiß momentan eines mit Gewissheit. Er will auch einen Gedenkort für seine Schwestern. Bei der Gestaltung möchte er mit einbezogen werden. Und er glaubt, dass seinen Schwestern eine Entschuldigung für das an ihnen begangene Verbrechen zusteht.


InfoFür das Forschungsprojekt in Erlangen werden Zeitzeugen und Angehörige von "Euthanasie"-Opfern gebeten, sich per E-Mail zu melden bei susanne.ude-koeller@fau.de oder dorothea.rettig@stadt.erlangen.de

Silas Ubrich, der im Großraum Nürnberg eine Angehörigeninitiative auf die Beine stellen will, ist per E-Mail unter ns.euthanasia.processing@gmail.com erreichbar.


Der Hintergrund

Am 8. Mai 1945 wurde der Zweite Weltkrieg in Europa offiziell beendet, der Tag gilt als Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus. Erst mehrere Wochen später, Mitte Juni, fand in Erlangen eine Begehung der Heil- und Pflegeanstalt (HuPfla) durch amerikanische Besatzungskräfte statt. Und erst im Zuge dieser Begehung wurde der damalige Direktor Wilhelm Einsle entlassen. Das Gerichtsverfahren gegen ihn endete mit einem Freispruch – aus Mangel an Beweisen, wie es hieß. Der Leiter der Universitätspsychiatrie Friedrich Meggendorfer, Verfechter rassenhygienischer Maßnahmen, NSDAP-Mitglied und Beisitzer des Erbgesundheitsobergerichts Bamberg, wurde noch später, am 22. August 1945, durch die Militärregierung entlassen. Er wurde als "Mitläufer" eingestuft, wieder eingestellt, gleichzeitig aber in den Ruhestand versetzt.

Doch all dies beweist nicht, dass an der Erlanger HuPfla und der mit ihr nicht nur räumlich verbundenen Universitätspsychiatrie keine Verbrechen stattfanden. Um eine eigens eingerichtete Tötungsanstalt handelte es sich dabei nicht, und dennoch war der Ort, von dem Anfang des 20. Jahrhunderts wesentliche reformpsychiatrische Impulse ausgegangen waren, ebenso wie viele andere Heil- und Pflegeanstalten in ganz Deutschland zu einem Ort der Täter geworden, denen ihnen anvertraute psychisch kranke und geistig behinderte Menschen zum Opfer fielen. 300 000 Menschen wurden im sogenannten "Euthanasie"-Programm ermordet. Sie wurden als "lebensunwert" eingestuft, im nationalsozialistischen Gesellschaftsbild als Belastung angesehen.

Aus Erlangen wurde 908 Menschen in den Jahren 1940/41 im Rahmen der sogenannten T4-Aktion abtransportiert und in Tötungsanstalten vergast. Danach wurde wie in anderen Anstalten die Hungerkost eingesetzt, zahlreiche Menschen starben vor Ort. Bis heute gibt es großen Aufklärungsbedarf, 1400 Patientenakten sind erst seit kurzem für die Forschung zugänglich.

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