Erlangen: Im Widerstand gegen die Nazis
3.7.2019, 18:00 UhrDer Erlanger Arzt Wolfgang Frobenius hat Lüttges Lebensweg recherchiert, im 275-Jahre-Jubiläumsband der Medizinischen Fakultät aufgezeichnet und jetzt in einer Vortragsveranstaltung im Kollegienhaus nochmals öffentlich gemacht.
1895 in Halle/Saale geboren, etablierte sich Lüttge vornehmlich als Geburtshelfer und wurde 1928 Assistent des Direktors der Erlanger Frauenklinik und späteren Uni-Rektors Hermann Wintz. 1933 übernahm Lüttge als FAU-Professor die Leitung der staatlichen Hebammenschule und späteren Frauenklinik in Bamberg, wo die Erlanger Medizinstudenten ab 1937 ihre geburtshilfliche Ausbildung erhielten. Zehn Jahre später, im Juni 1943, wurde Lüttge mit den Folgen des Rassenwahns konfrontiert: Er sollte auf Anweisung des Gauamtsleiters und SA-Brigadeführers Eugen Heßler, damals Leiter der Kassenärztlichen Vereinigung in Bayreuth, bei drei Ostzwangsarbeiterinnen Schwangerschaftsabbrüche vornehmen – im Gegensatz zum strengen Abtreibungsverbot für deutsche Frauen. Vorgegeben war eine rassische Beurteilung. Man wollte sogenannten Minderrassigen Nachwuchs verhindern.
Lüttge zögerte eine Antwort auf Heßler zunächst einen Monat hinaus, gab dann Platzmangel als Anlass für die Bitte einer Verlegung nach Erlangen oder Würzburg vor und ließ damit den Zeitpunkt verstreichen, zu dem ein Abbruch medizinisch noch vertretbar gewesen wäre. Außerdem bat er den Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie um eine offizielle Stellungnahme zum Abtreibungserlass. Mit einem ähnlichen Vorgehen hatte Lüttge bereits zwei Jahre zuvor einem Denunzianten den Wind aus den Segeln nehmen können, der ihn wegen der Behandlung jüdischer Patientinnen bei der NS-Kreisleitung angeschwärzt hatte.
Als im Oktober 1944 Heßler erneut aktiv wurde und auf Abtreibungen drängte, reagierte Lüttge auf bewährte Weise: Er sei in Sorge, dass sich diese Eingriffe demoralisierend auf die Hebammenschülerinnen und Studenten auswirken könnten. Die Hebammenlehrer müssten ihren Schülerinnen einschärfen, dass jegliche Schwangerschaftsunterbrechung ohne medizinische Indikation ein Verbrechen sei. Lüttge: "Der Lehrer büßt jede Achtung ein, wenn die Schülerinnen merken, dass hier etwas vorgeht, was ihnen später streng verboten sein soll." Und er wies auf die bestehende Rechtslage hin: "Zuchthaus, heute sogar Todesstrafe steht auf Abtreibung. In dem § 218 steht nicht, dass Schwangerschaftsabbrechung bei andersrassigen Völkern erlaubt ist. Kein Erlass kann infolgedessen von mir die Umgehung des § 218 verlangen." Man muss wissen: In der Erlanger Frauenklinik waren damals mindestens 136 Abtreibungen, einige davon mit tödlichem Ausgang, an Ostarbeiterinnen vorgenommen worden.
Wolfgang Frobenius, freier Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichte der Medizin an der FAU, früherer Oberarzt der FAU-Frauenklinik sowie langjähriger journalistischer Mitarbeiter der "Erlanger Nachrichten": "Nach Kriegsende räumte Lüttge selbst ein, dass er Zeit gewinnen wollte und auf sein Schreiben keine Antwort erwartet hatte." Lüttge berichtete von einem "Kampf gegen Reichsärzteführer und Gauleitung", einer heftigen telefonischen Auseinandersetzung mit Heßler und seiner angeblichen temporären Entlassung durch Reichsärzteführer Leonardo Conti. Auch nahm er für sich in Anspruch, im Gegensatz zu Wintz in der Erlanger Frauenklinik, aber auch im Gegensatz zum Städtischen Krankenhaus Bamberg, dem Coburger Landkrankenhaus und der Heil- und Pflegeanstalt Kutzenberg, in seiner Bamberger Klinik Zwangssterilisationen verweigert zu haben. Diesem Eingriff nach dem Gesetz von 1933 "zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" hatten sich in Erlangen mindestens 513 Frauen unterziehen müssen, in den anderen genannten Kliniken 591 Frauen. Lüttges Argumentation führte nach Kriegsende wohl auch zu einer schnellen Entlastung des seit 1937 NSDAP-Mitglieds Werner Lüttge vor der Spruchkammer.
Frobenius hat die "unter seinen Kollegen ziemlich singuläre" Ausnahmesituation Lüttges klar analysiert: "Auf schriftlichen Protest bei übergeordneten staatlichen Stellen haben sich sonst wohl nur hochrangige Vertreter der katholischen Kirche eingelassen." Und er sei vermutlich auch der einzige Frauenarzt gewesen, der sich in dieser Angelegenheit an seine Fachgesellschaft gewandt hatte. Für Frobenius ist das Verhalten Lüttges mit einem "erweiteren Widerstand" zu vergleichen – ein von Detlev Peukert, dem früheren Leiter der Hamburger Forschungsstelle zur Geschichte des Nationalsozialismus, entwickelter Begriff.
Lüttge war bis 1962 Direktor der Bamberger Frauenklinik, betreute 150 Doktorarbeiten, hielt bis 1962 an der FAU Vorlesungen und trug die Verantwortung für 62 000 Geburten und 50 000 gynäkologische Behandlungsfälle. 1963 wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ausgezeichnet. Lüttge starb 1979 in Bamberg.
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