Erlanger Ärztin: "Achtjährige versuchen, sich das Leben zu nehmen"
22.3.2021, 19:01 Uhr"Wie furchtbar es ist, hätte ich nicht für möglich gehalten." Das sagt die junge Erlanger Ärztin Tabea Stocklassa nach ihrer Rückkehr von der Insel Lesbos. Zweieinhalb Monate lang hat sie mit einer Hilfsorganisation im provisorischen Flüchtlingslager Kara Tepe gearbeitet. Nun kehrte sie zurück in ihr Elternhaus in Höchstadt.
Zelte, die eng an eng stehen und Wind und Wetter ausgesetzt sind. Regen und Schlamm, durch den Menschen waten – diese Bilder des Lagers auf einem ehemaligen Militärgelände direkt am Meer gingen um die Welt. Zwar wird die Berichterstattung behindert, Journalisten dürfen offiziell nicht ins Lager, doch Handyvideos und Bilder finden ihren Weg.
"Eine andere Dimension"
Im vergangenen Herbst wurde das Lager Kara Tepe errichtet, nachdem das überfüllte Lager Moria durch Brände zerstört worden war. "In echt sieht es noch furchtbarer aus", sagt Tabea Stocklassa. "Es ist eine andere Dimension, wenn man vor Ort ist und das ganze Elend sieht."
7000 Menschen leben in dem Lager. Vor allem Familien sind in Kara Tepe, über ein Drittel seien Kinder, berichtet die 26-Jährige, die merklich noch unter den Eindrücken des Erlebten steht. "Ich hätte nie gedacht, dass da so viele Kinder sind." Und es sei auch einfach unvorstellbar, "wie viele Familien man da am Meer vegetieren lässt".
"Ärztehaus" im Zelt
Die meisten dieser Menschen brauchen medizinische Hilfe. Die Basisversorgung wird von griechischer Seite aus sicher gestellt, die ärztliche Versorgung sei aber vor allem durch Nichtregierungsorganisationen gedeckt, so die junge Frau, die auf Kinderheilkunde spezialisiert ist. Eine "Klinik" ist in einem großen Zelt am Eingang des Lagers untergebracht. Mit Planen wurden "Wände" eingezogen, so dass es "wie ein Ärztehaus ist, nur dass es schon mal kalt und windig wird", vor allem in den "Warteräumen", erzählt sie.
Tabea Stocklassa hat die Menschen in die für sie richtigen Bereiche zugeteilt – zur Gynäkologin, zu den Akutärzten, für die Wundversorgung zu Krankenschwestern. Sie sei aber auch bei den Ärzten dabei gewesen und habe als Medizinerin gearbeitet, sagt die 26-Jährige, die nach dem Studium in Hannover und dem Einsatz auf Lesbos in Erlangen als Ärztin arbeiten wird.
Schlimme psychische Wunden
Besonders schlimm, sagt sie, seien die psychischen Verwundungen der Menschen im Lager gewesen. In Kara Tepe hat Tabea Stocklassa Kinder kennengelernt, die ohne jeden Lebensmut sind. "Ich habe noch nie in meinem Leben so traurige Kinder gesehen", sagt sie. Durch alle Altersstufen hinweg würden die Menschen aufgrund der "schlimmsten Sachen, die sie auf der Flucht erlebt haben", unter psychischen Problemen leiden. Was ihnen blieb, war die Hoffnung auf ein anderes Leben.
Doch im Flüchtlingslager haben sie diesen Lichtblick verloren. Vor allem nach dem Brand von Moria haben viele Geflüchtete posttraumatische Belastungsstörungen, die sich in Bauch- und Rückenschmerzen äußern. Viele haben Depressionen, es gibt häufig Selbstverletzungen und Suizidversuche – selbst bei Kindern. "Ja, dort kommen Suizidversuche auch bei Achtjährigen vor", sagt die Ärztin.
Auf der Flucht geboren
Viele Kinder seien auf der Flucht geboren – einer Flucht, die oftmals jahrelang dauerte, die einen Großteil dieser Menschen erst aus Afghanistan in den Iran brachte, von dort aus dann weiter. Eine Flucht, die nur Gesunde oder jedenfalls Kräftige wagen können. Doch nun, nach Monaten im Flüchtlingslager der EU, wo jeweils zwei Familien in einem kleinen Zelt zusammengepfercht oder mit hundert anderen in einem großen Zelt hausen, werden viele krank, verlieren den Lebensantrieb.
Das psychische Leiden ist das Hauptproblem, doch auch körperliche Verletzungen durch Folter oder Kriegswunden müssen behandelt werden. Ein großes Problem ist zudem, dass sich aufgrund der schlechten hygienischen Bedingungen die Krätze stark verbreitet. Hervorgerufen wird Skabies durch Milben, die unter die Haut gehen. Um sie loszuwerden, müssten die Kleider heiß gewaschen werden. Das aber ist nicht möglich in einem Lager, in dem es schon für die Menschen kaum warmes Wasser gibt. Krätze juckt furchtbar, die Menschen kratzen sich auf, die Skabieswunden infizieren sich, auch schon bei Babys.
"Ich würde es wieder machen"
Von Anfang Januar bis Mitte März war Tabea Stocklassa auf Lesbos, ein einschneidendes Erlebnis, das sie aber nicht missen möchte. "Ich würde es auf jeden Fall wieder machen." In den letzten Wochen sei ein bisschen Bewegung drin gewesen im Flüchtlingslager Kara Tepe, einige Familien seien aus dem Lager geholt worden, 1500 von den 7000 Menschen will Deutschland aufnehmen.
Erlangen hat zwei Familien aufgenommen. Die Stadt gehört zu den Kommunen, die erklärt haben, dass sie bereit wären, auch mehr Geflüchtete zu versorgen. In einem Statement hat die Stadt Zuflucht für sechs Familien angeboten. Die junge Ärztin kennt Kara Tepe auf Lesbos nun aus nächster Nähe und weiß, was dort passiert. Angesichts des Elends dazu schweigen könne man nicht, meint sie. "Es passiert. Und deshalb ist es wichtig, darüber zu reden", sagt sie.
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