Erlanger Projekt Ein-Dollar-Brille trotz(t) Corona
17.12.2020, 18:30 Uhr950 Millionen Menschen weltweit sehen schlecht, können sich aber keine Brille leisten. Nicht nur, weil die Brille ihren Preis hat, sondern weil allein die Fahrt vom Land in die Stadt und die Untersuchung beim Optiker eine Menge kostet. Oft muss man nochmal in die Stadt fahren, um die Brille abzuholen. Und dann sieht man vielleicht trotzdem schlecht, weil sich jemand mit den Dioptrien vertan oder minus mit plus verwechselt hat.
Deshalb hat der ehemalige Mathe- und Physiklehrer Martin Aufmuth in Erlangen den Verein Ein-Dollar-Brille mit Sitz am Bohlenplatz ins Leben gerufen. Seit Juni 2012 wirkt der Verein in mehreren Ländern in Afrika und Südamerika und ermöglicht den Sehschwachen, sich inklusive kostenloser Augenuntersuchung eine Brille für einen oder zwei Tageslöhne zu erwerben.
Die Gestelle basteln ausgebildete Handwerker an Ort und Stelle zusammen und ernähren damit ihre Familien.
300.000 Menschen tragen inzwischen solch eine Billigbrille. Billig deshalb, weil ihre Herstellung gerade etwa einen US-Dollar beträgt. Furchtbar dünn und zerbrechlich sieht sie aus, ist aber haltbarer, als man glaubt. Sogar brutale Härtetests konnten ihr nichts anhaben. "Wir sind mit den Füßen draufgetreten, haben sie mit dem Fahrrad und mit dem Motorroller überfahren", erzählt Martin Aufmuth. "Danach mussten wir nur die herausgesprungenen Gläser wieder einsetzen und mit der Zange zweimal biegen, dann war alles wieder in Ordnung."
Richtiger Umgang
Die richtige Brille entscheidet nicht nur über ein besseres Leben. Manchmal ist es sogar eine Frage von Leben und Tod. "Ein Bauer, der nicht mehr richtig sieht, streut bei der Aussaat daneben und ein Großteil der Samen geht verloren", doziert Aufmuth, "dann fällt die Ernte mager aus und irgendwann verhungern die Menschen". Auch der Umgang mit der Brille muss gelehrt werden: "Manche Leute glauben, sie müssten die Gläser nur drei oder vier Wochen tragen, dann wären die Augen wieder gesund. Andere verstecken ihre Brille und tragen sie nur bei der Arbeit, weil sie Angst haben, sie zu verlieren. Und wieder andere tragen sie wie eine Trophäe um den Hals".
Unter normalen Umständen fahren die Optik-Teams in der Dritten Welt aufs Dorf hinaus, sagen dem Bürgermeister oder Lehrer Bescheid und kommen ein paar Tage später zu einem festen Termin wieder. Bis dahin treffen alle Sehschwachen der Umgebung – das können mehr als hundert sein – in der Schule ein, werden untersucht und bekommen an Ort und Stelle ihre passende Brille.
Bisher war die Brillenversorgung exponential gewachsen, doch dieses Jahr hat die Corona-Pandemie eine merkliche Delle in der Erfolgskurve hinterlassen. "In Bolivien gelten sehr strenge Corona-Verordnungen", erzählt Aufmuth, "alle Menschen über sechzig Jahre – darunter unser Projektleiter – durften sechs Monate lang nicht aus dem Haus. Seine Frau durfte nur einmal in der Woche für zwei Stunden einkaufen gehen."
Jetzt auch dabei: Peru und Indien
Dafür hat die Organisation als solche nicht gelitten: "Wir sprechen uns seit Jahren online ab. Wo andere Firmen sich umstellen, sind wir schon längst eingespielt", ist Aufmuth erleichtert. "Und da viele ehrenamtliche Mitarbeiter in ihrem Beruf wegen Corona sich in Kurzarbeit befinden, haben sie mehr Zeit, sich in unserem Verein einzubringen. Ich hoffe, dass wir nächstes Jahr wieder die Verkaufszahlen von 2019 erreichen werden." Vor kurzem sind Peru und Indien auf der Brillenlandkarte neu hinzugekommen.
Im Herbst diesen Jahres hat Martin Aufmuth seine Lehrerberuf an den Nagel gehängt. "Bis dahin war ich für mein Engagement freigestellt", erzählt der 46-Jährige, "nun aber musste ich mich entscheiden. Die hauptamtlichen Mitarbeiter und ich leben von den Einkünften des Vereins und von den Spenden".
www.eindollarbrille.de
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