Kugelköpfe und verrauchte Keller in Erlangen
19.6.2015, 11:34 Uhr„Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk“, heißt ein Song der Hamburger Schlaumeierband Tocotronic, wobei die Aussage auf eine Stadt wie Erlangen noch viel mehr zutrifft. Nein, die Hugenottenstadt war nie Keimzelle neuer musikalischer Strömungen, war nie Szenestadt, ist selten hip und den Trends hinkt man hier immer ein wenig hinterher. Auf der popkulturellen Landkarte, da müssen wir uns nichts vormachen, sind wir nur eines von unzähligen Provinznestern. Erlangen hat keine Rock-Ikonen, keinen Jazz-Pionier und keinen Liedermacher-Fürsten hervorgebracht und auch die Welt der Klassik bekommt ihre so dringend benötigten neuen Impulse bestimmt nicht aus Erlangen.
Warum also eine Chronik zur musikalischen Nachkriegs-Geschichte der Stadt? Natürlich weil jede Stadtgeschichte, ganz egal wie bedeutend oder unbedeutend, auch eine kulturelle ist. So gut wie jede Biografie ist mehr oder weniger mit musikalischen Erinnerungen verknüpft und nicht wenige Erlanger, manche schon lange tot, andere noch immer aktiv, haben ihr Leben ganz und gar der Musik verschrieben. Darüber hinaus darf man eines nicht vergessen: Der Zeitgeist, das Lebensgefühl und die politischen Strömungen bestimmter Epochen bilden sich in der Provinz, im Umfeld des Alltäglichen, oft schärfer ab als in den allbekannten, längst in der eigenen Legende erstarrten Bildern. Jimi Hendrix’ Afrofrisur mag ein Symbol sein für die gesamte psychedelische Hippie-Kultur, doch erst wenn man die imposanten Kugelköpfe der Bühler-Brüder von der Band „Wind“ auf dem Walberla oder in der Erlanger Helmstraße sieht, dann versteht man auch als Nachgeborener: Das ist wirklich passiert! Sogar in Franken!
Abgesehen davon: Auch das kleine Erlangen hat bis heute immer wieder bemerkenswerte Musiktalente hervorgebracht, von denen es zwar nur wenige zu überregionaler Bekanntheit gebracht haben, deren Kreativität aber dennoch jede Würdigung wert ist. Im umfangreichsten Kapitel des Buches, betitelt „Von den 50ern bis zur Jahrtausendwende“, lässt der Autor und Hörfunkredakteur Thomas Senne ein halbes Jahrhundert Erlanger Musik- und Zeitgeschichte Revue passieren: Vom ersten Erlanger Jazzkeller über den legendären Jazzclub Pupille bis zum heutigen Strohalm und dem Kulturzentrum E-Werk, vom Jazzgitarristen Jan Rigo über den Pianisten Thomas Fink zum Bassisten und Jazz-Aktivisten Rainer Glas. Von frühen Beatbands wie „Proud Flesh“ zu deutschlandweit erfolgreichen Gruppen wie „Bentox“ und deren Nachfolgeband „Wind“, von Klaus Kreuzeder zu Klaus Treuheit, von Schlossgartensessions, Hausbesetzern und Konstantin Weckers Spontanauftritt im „Starclub“, dessen langjähriger Besitzer Franz Seeberger als Marc Seaberg selbst eine Schlagerkarriere hingelegt hatte. Vor allem Menschen, die wie die Autoren in den Sechziger und Siebziger Jahren sozialisiert wurden, werden ihre helle Freude an dem Band haben – nicht zuletzt aufgrund der Fotografien des Mit-Herausgebers Bernd Böhner.
Der illustriert das Buch nicht nur mit Band- und Künstlerportraits sondern auch mit Aufnahmen, die das Zeitkolorit jener bewegten Tage hervorragend einfangen: Hippies im Schlossgarten, Freie Liebe in der Nürnberger Straße, eine suberversive Aufforstungsaktion am Exerzierplatz oder eine Antipanzer-Demo in der Schenkstraße – immer wieder garniert mit den Sponti-Sprüchen der Ära. Allerdings werden die Jahre ab Mitte der Achtziger eher im Schnelldurchlauf abgehandelt. Im „Register Pop“ und „Register Jazz“ des inzwischen verstorbenen Jörg Engel finden in den 90ern groß gewordene Erfolgsbands wie „J.B.O.“, „Fiddler's Green“, „Merlons“ oder der Gitarrist Torsten Goods zwar Erwähnung (während andere stilistisch falsch zugeordnet werden), der Focus liegt ganz klar auf den vorangegangenen Jahrzehnten.
Unterhaltsam und informativ
Selbstredend erfährt auch das klassische Musikleben in Erlangen seine Würdigung: Jörg Krämer, Flötist bei der Staatsphilharmonie Nürnberg, referiert ausführlich und kenntnisreich über Kirchenmusik, Avantgarde, Laienensembles und Nachwuchsförderung, über den GVE, die freie Szene und die Abhängigkeit von institutioneller Förderung – ein naturgemäß etwas trockener Stoff, da die sogenannte E-Musik in der Neuzeit von soziokulturellen Strömungen weitgehend unbeeinflusst existiert. Für Klassik-Liebhaber mit Sicherheit interessant, als Pop- und Jazzfan schmökert man aber doch lieber durch verrauchte Jazzkeller und alternative Landkommunen. So oder so: „Musik in Erlangen 1945—2014“ wird dem Anspruch auf Vollständigkeit zwar nur bedingt gerecht, ist aber nichtsdestotrotz ein genauso unterhaltsames wie informatives Stück Kultur- und Zeitgeschichte.
Das Buch „Musik in Erlangen 1945—2014“ gibt es für 19,80 Euro im regionalen Buch- und Schallplattenhandel oder direkt beim Stadtarchiv.
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