Mit Behinderung in die Mitte der Gesellschaft

19.8.2020, 06:00 Uhr
Mit Behinderung in die Mitte der Gesellschaft

© Edgar Pfrogner

Eine große Geburtstagsfeier hätte es werden sollen. Vor 60 Jahre wurde in Erlangen die erste Ortsvereinigung der Lebenshilfe in Bayern gegründet, . Wegen Corona fällt die Feier aus. Und auch sonst war und ist in diesem Jahr vieles anders für die über 1000 Menschen mit geistiger Behinderung und mehrfacher Beeinträchtigung in Erlangen und im östlichen Landkreis, für die die Lebenshilfe Erlangen da ist. "Wir waren betroffen von diversen Schließungen. Den Großteil unserer Angebote durften wir nicht weiterfahren, zu Recht, denn sehr viele unserer Klienten gehören zur Risikogruppe", sagt Vorstandsvorsitzender Frank Morell.

Die Werkstätten, die Kitas, die Georg-Zahn-Schule, die Frühförderung – alle waren monatelang komplett oder teilweise für die Menschen mit Behinderung geschlossen, erst allmählich hat sich das wieder geändert. In den Krisenmodus also sei man übergegangen, "aber wir haben eine tolle Bewältigung hingebracht".

Antje Kempf ist eine der Klientinnen. Die 46-Jährige ist in einer Wohnstätte der Lebenshilfe in der Wäscherei beschäftigt. Wie waren für sie die ersten Corona-Monate? "Ich durfte nicht arbeiten", sagt sie. "Ich war zuhause." Seit 2011 lebt sie eigenständig in einer Wohnung, nachdem sie zuvor in verschiedenen Wohnheimen gelebt hatte. Ein- bis zweimal in der Woche kommt ihre Assistentin für jeweils zwei Stunden zu ihr nach Hause. Normalerweise. Seit Beginn der Corona-Pandemie kommt sie dreimal pro Woche. Dann spielen sie zusammen Tischtennis, vor allem aber unterhalten sie sich miteinander. Vieles fällt wegen Corona aus für Antje Kempf. "Ich vermisse Yoga, Aquafitness und Kegeln", sagt sie. "Ich habe daheim aufgeräumt."

Zuhause bleiben mussten auch die Bewohner der Wohnheime. Sie durften keinen Besuch empfangen. Das war schwer. Schließlich wurde eine Lösung gefunden, ein Container als Besuchsraum, mit einer Plexiglasscheibe in der Mitte. "Unsere Klienten haben alles gut überstanden", sagt Frank Morell. "Da bin ich stolz auf alle, die in der Lebenshilfe wohnen, arbeiten und leben. Ich hoffe, dass wir nicht getroffen werden von der zweiten Welle."

Inzwischen dürfen Menschen mit Behinderung wieder in die Werkstätten. "Am Anfang kamen nur diejenigen, die extern oder bei den Eltern wohnen, jetzt dürfen auch viele Wohnheimleute wieder hin", sagt Frank Morell. 40 Jahre Regnitzwerkstätten – das ist das andere Jubiläum, das die Lebenshilfe dieses Jahr nicht feiern kann.

"Sehr gut zusammengerutscht"

"Wir sind ein Elternverband, durch die Corona-Krise sind wir sehr gut zusammengerutscht", sagt Frank Morell. Auch die ganze Gremienarbeit musste in den letzten Monaten ausfallen. Nicht komplett geschlossen waren die Kindergärten, für Eltern in systemrelevanten Berufen gab es immer eine Notbetreuung. Bei der Frühförderung hingegen waren Beratungen im direkten Gespräch nicht möglich, eine schwierige Situation für die Familien mit den Kindern. Man hat, wie anderswo auch, versucht, telefonisch zu unterstützen.

Das Prinzip des Abstandhaltens ist für manche Menschen mit geistiger Behinderung allerdings schwer zu verstehen. Jemanden, den man mag, nicht mehr umarmen dürfen? Das muss einem erst mal jemand erklären. Für Antje Kempf sind die Corona-Regeln wie beispielsweise das Halten von Abstand jedoch gut nachvollziehbar. Viele, findet sie, halten sich da nicht so richtig dran. " Probleme hat sie wegen der Mund-Nase-Masken, sie liest viel von den Lippen ab, jetzt hat sie mit dem Verstehen manchmal Probleme.

Antje Kempf bringt sich im Rat der Offenen Behindertenarbeit der Lebenshilfe Erlangen und im Behindertenrat beim Bezirk Mittelfranken ein. "Die Behinderten wollen ernst genommen, nicht ausgelacht werden", sagt sie. Dass Jugendliche über sie lachen, wenn sie mit ihrem Behindertenfahrrad unterwegs ist, macht sie traurig. Auch nach 60 Jahren Lebenshilfe, so ihre Überzeugung, gibt es im Hinblick auf  Inklusion und Toleranz noch viel zu tun.

 

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