Erste Tiny-House-Siedlung Deutschlands steht in Franken
22.9.2019, 15:57 Uhr55 Quadratmeter Wohnfläche für zwei Personen – für Otto Normalverbraucher klingt das nicht unbedingt überdimensioniert, doch Stefanie Beck und Philipp Sanders kamen sich in ihrer ersten gemeinsamen Studentenbude ziemlich verloren vor. "Eigentlich wollten wir ein Einzimmerappartement, doch alle Vermieter in Augsburg sagten uns, dass das für zwei Personen nicht gehe", erinnert sich Philipp. Also zogen seine Freundin und er notgedrungen in besagte 55-Quadratmeter-Wohnung, in der sie sich jedoch nie wohlfühlten.
"Wir hatten gar nicht die Einrichtung dafür, und wegen der Steinböden waren die Zimmer ziemlich hallig", erzählt der 24-Jährige. Das junge Paar wollte deshalb schon zusätzliche Möbel kaufen, "aber zum Glück haben wir noch rechtzeitig gemerkt, dass wir drauf und dran waren, in die Konsumfalle zu tappen".
Die beiden Architekturstudenten zogen daraufhin einen Schlussstrich unter ihr bisheriges Leben und siedelten um ins Fichtelgebirge, wo sie auf einem großen Grundstück oberhalb der kleinen Gemeinde Mehlmeisel die erste Tiny-House-Siedlung Deutschlands gründeten. Seit gut einem Jahr leben Stefanie und Philipp in ihrem 26 Quadratmeter großen Domizil, das sie selber entworfen und gebaut haben.
Etwa 25.000 Euro für das Material haben sie in den acht mal drei Meter großen Kubus mit seiner Außenfassade aus unbehandeltem Lärchenholz und versetzten Ebenen für mehr Wohnfläche im Inneren investiert. "Wenn man das in dieser Form bauen ließe, müsste man etwa das Dreifache investieren", sagt Philipp.
Kleiner ökologischer Fußabdruck
Mittlerweile haben die beiden Gründer des "Tiny House Village" mehrere Minihäuser errichtet, das neueste Gebäude in der Siedlung wurde im Rahmen eines Workshops gebaut. Zehn Personen benötigten sechs Tage dafür, und mit etwas mehr Routine würde es noch merklich schneller gehen, wie die Initiatoren betonen. Die Anhänger der Tiny-House-Philosophie wollen nicht nur einen möglichst kleinen ökologischen Fußabdruck hinterlassen, sondern auch nicht zu viel Lebenszeit in den Bau und Unterhalt der eigenen vier Wände investieren.
"Aufräumen dauert fünf Minuten, und in einer Stunde ist alles geputzt", erzählt Stefanie, während die beiden durch ihr kleines Domizil führen. Essplatz, Küchenzeile und Bad wurden in cleverer Puzzlearbeit auf eine Fläche gekniffelt, die in normalen Wohnungen gerade mal ein Zimmer beherbergt. Der Wohnbereich mit Sofa und Fernseher liegt auf einer erhöhten Ebene, darunter krabbelt man durch eine große Luke ins "Schlafzimmer", das mit seiner niedrigen Deckenhöhe und dem schmalen Seitenfenster an eine Bootskajüte erinnert.
"Wir müssen auf nichts verzichten"
Verzichten müsse es in seinem kleinen Reich auf nichts, beteuert das junge Paar. "Als Tiny-House-Bewohner muss man sich nur vorab sehr intensiv mit sich selbst und seinen individuellen Bedürfnissen beschäftigen", erklärt Stefanie. Für den einen sei eine etwas größere Küche wichtig, der andere wolle vielleicht lieber eine Badewanne statt nur einer Dusche. Leben in so einem Minihaus ist ein permanenter Selbsttest: Was brauche ich wirklich, und was glaube ich nur zu brauchen?
Der drei Häuser weiter lebende Rolf Patrick Ullrich braucht vor allem Zeit für sich und seine unterschiedlichen Interessen, wie das Schreiben von Fantasyromanen. Vor eineinhalb Jahren ist er mit seinem holzverkleideten Bauwagen und Mischlingshündin Elli ins "Tiny House Village" gezogen und hat hier auf 18 Quadratmetern sein persönliches kleines Glück gefunden. Der 51-Jährige mit dem grauen Vollbart hat früher unter anderem als Tanzlehrer und als Betreiber eines Sportstudios gearbeitet. Außerdem sei er in einem Job als Unternehmensberater eines Freizeitdienstleisters drei Jahre lang quasi ununterbrochen auf Achse gewesen. "Da fragt man sich irgendwann, warum man eigentlich so viel wertvolle Lebenszeit in klingelnde Münze verwandeln muss", meint Ullrich.
Mit dieser Einstellung ist er nicht allein in der Siedlung, in der inzwischen 30 Personen in 20 Tiny Houses leben. "Die Leute hier arbeiten im Schnitt 20 Stunden pro Woche", berichtet Philipp. Keiner wolle sich auf Jahrzehnte für ein möglichst großes Eigenheim verschulden, das man wegen langer Arbeitszeiten aber eigentlich nur wenig nutze.
Drei Ferienappartements verfügbar
Die beiden Gründer des "Tiny House Village" verdienen ihren Lebensunterhalt inzwischen mit der Verpachtung der Wohnparzellen auf ihrem Grundstück (1,95 Euro pro Monat und Quadratmeter inklusive Müllentsorgung und WLAN, 1,50 Euro für Familien) sowie mit Workshops und mit der Vermietung von drei Appartements, in denen man das Wohnen im Miniformat für ein paar Tage ausprobieren kann.
Das Interesse an den Tiny Houses ist groß, die Auslastung der Ferienappartements liegt bei über 90 Prozent. Und viele Menschen wollen auch dauerhaft auf das 17.000 Quadratmeter große Areal ziehen, doch die Betreiber des "Tiny House Village" haben schon eine ganze Reihe von Bewerbern abgelehnt. "Viele haben ziemlich rosarote Vorstellungen vom Alltag hier. Einige Interessenten glaubten auch, dass Steffi und ich ihre Butler seien", erzählt Philipp. Und manche meinten, sie könnten hier ein Ferienhäuschen errichten. Das aber würde den Nachhaltigkeitsgedanken der Tiny-House-Philosophie ad absurdum führen.
Tiny House im Landkreis Roth geplant
Gemeinschaft wird großgeschrieben in der kleinen Siedlung, die im Gegensatz zu den USA, dem Ursprungsland dieser Bewegung, in Europa noch ziemlich einzigartig ist. "Als wir im Sommer 2017 dieses Grundstück kauften, haben sechs von acht Banken unsere Kreditanfrage direkt abgelehnt", erzählt Philipp. Mit der Idee eines Minihaus-Dorfes konnte zu dem Zeitpunkt noch kaum ein Banker etwas anfangen. Zum Glück hatten die beiden Initiatoren in Mehlmeisels Bürgermeister Franz Tauber (Freie Wähler) einen Fürsprecher, der dem Projekt von Anfang an aufgeschlossen gegenüberstand.
Raum für Feiern und Veranstaltungen
Die kleine Dorfgemeinschaft hat noch viel vor: Ein Permakultur-Garten soll entstehen, an die Gründung eines Waldkindergartens und an ein Carsharing-Projekt ist gedacht, und zurzeit wird das ehemalige Wohnhaus der Vorbesitzer des Grundstücks zu einem Gemeinschaftshaus umgebaut. Neben Gästezimmern für über Nacht bleibende Verwandte und Freunde und einer Bibliothek, in der die derzeit noch in zahlreichen Kartons lagernden Bücher der Bewohner zusammengeführt werden sollen, ist ein großer Raum für gemeinsame Veranstaltungen und Feiern geplant.
Nach Ansicht von Rolf Patrick Ullrich eine dringend nötige Investition in die Zukunft. Im Sommer brenne jeden Abend irgendwo im Dorf ein Lagerfeuer, an dem man sitzen und miteinander plaudern könne. Im Winter dagegen, wenn im Fichtelgebirge oft bis in den März hinein Schnee liege, sehe man seine Nachbarn manchmal tagelang nicht. Der 51-Jährige, der über seine Erlebnisse im "Tiny House Village" schon ein Buch geschrieben hat ("Warum Tiny Houses keinen Keller haben"), würde deshalb gerne eine kleine Privatkneipe auf dem Areal betreiben. Die Diskussion über das genaue Wo und Wie sei allerdings noch nicht abgeschlossen.
Bald Nachwuchs in der Siedlung
Bald wird es auch Nachwuchs in der Siedlung geben, denn drei Bewohnerinnen sind zurzeit schwanger. Wenn diese Kinder zusätzlichen Platz benötigen, ist das laut Philipp kein Problem. "Dann erweitert man das bestehende Haus um ein zusätzliches Modul." Und wenn der Nachwuchs irgendwann "aus dem Haus" sei, könne man dieses Modul entweder rückbauen oder versetzen. Das sei das Schöne an der Tiny-House-Philosophie: "Das Haus richtet sich nach deinem Leben und nicht du dein Leben nach deinem Haus."
Am Samstag, 28. September, laden die Bewohner des "Tiny House Village" zu ihrem Herbstfest ein, bei dem zwischen 11 und 17 Uhr auch einige Häuser besichtigt werden können. Weitere Informationen unter www.tinyhousevillage.de.
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