1945 in Franken: „Der Himmel brennt“

8.2.2015, 06:00 Uhr
1945 in Franken: „Der Himmel brennt“

© Foto: Udo Güldner

„Rette sich, wer kann“, quäkt es aus dem Lautsprecherwagen in Osterode am Drewenzsee. Es ist der 19. Januar 1945 um vier Uhr morgens. Tiefster Winter in Ostpreußen und tiefste Nacht. Die Rote Armee rückt immer näher, das Artilleriefeuer erhellt den Himmel, die Granateneinschläge lassen die Scheiben klirren, die anrollenden Panzer bringen den Boden zum Vibrieren. Lange war es unter Strafe verboten, vor den anrückenden sowjetischen Soldaten zu fliehen. Jetzt ist es fast zu spät.

Zumindest für eine geordnete Evakuierung. Chaos und Angst herrschen in dem Häuschen, das die Mutter geputzt und aufgeräumt zurücklassen will. Vielleicht weil sie hofft, wieder zurückkehren zu können. Wahnsinn das eine, eine Illusion das andere. Hastig werden einige Habseligkeiten zusammen gerafft, hauptsächlich warme Kleidung, einige wichtige Papiere, Fotografien und das ganze Geld.

Alles auf einen Schlitten

Ursulas Familie packt alles auf einen Schlitten, auch die Kleinkinder, die nicht weg wollen und sich schreiend unter dem Bett verbergen. Über zwei Millionen Deutsche sind allein in Ostpreußen auf der Flucht. Mit Pferdefuhrwerken, Eisenbahnzügen und Leiterwagen, zumeist aber zu Fuß irren sie durch den kümmerlichen Rest Großdeutschlands. Viele wissen gar nicht genau, wo sie gerade sind. Nur weg von der Front. Die Straße dürfen nur militärische Einheiten benutzen, also stapfen sie nebenan durch die Gräben. Schnee und Eis behindern die Flucht gen Westen, die zuweilen, wenn es die Umstände nicht anders zulassen, auch wieder Richtung Osten geht. Auf dem Weg sind die Zivilisten vor Tieffliegerangriffen nicht sicher. Wie unheimliche Schatten beschreibt sie Ursula in ihrem erschütternden Bericht, den Sebastian Brahn zu Papier gebracht hat. Hunger und Kälte machen den in Trecks Laufenden zu schaffen. Rund 300 000 Einwohner Ostpreußens werden die Strapazen, Kampfhandlungen und auch Massaker nicht überleben.

„Nicht stehenbleiben, und nicht zurückblicken.“ Der Weg der Familie um die 32-jährige Mutter und ihre Kinder, darunter die damals 13-jährige Ursula, führt über Zwickau und Chemnitz nach Dresden. Dort dürfen sie nicht in die Stadt. Was sie zuerst bedauern, werden sie kurz darauf als glückliche Fügung des Schicksals auffassen. Denn es ist der 13. Februar 1945, und die stolze Stadt an der Elbe versinkt in einem infernalischen Feuersturm alliierter Bomberverbände.

Grauenhaftes Schauspiel

Ein „prasselnder Feuerofen“ verschlingt alles. Wieder wird die Nacht zum Tage, und wieder sterben die Menschen. Das „grandiose“ aber grauenhafte Schauspiel erleben Ursula und ihre Familie als Zaungäste. Aus der klirrenden Kälte, in der Knochen zu Eis zu werden schienen, geht es in die Hitze der Brandbomben, die auch jenseits der Stadtgrenze noch ihre Wirkung entfalten. Eine „gnadenlose und totale Vernichtung“. Der Lärm durch Explosionen und einstürzende Häuser ist ebenso erschreckend wie das Erlebnis, dass Menschen in ihren Kellern ersticken oder auf den Straßen verglühen. „Mutti, der Himmel brennt“, wird Ursula später erzählen, habe sie damals gesagt. Ein Trauma, das die betagte Frau in ihrer neuen Heimat in der Oberpfalz nicht loslässt.

Letzte Station der Lesung ist Neuern im Böhmerwald, das vor dem Münchener Abkommen 1938 zur Tschechoslowakei gehörte und heute in der Tschechischen Republik liegt. Hier kamen Ursula und ihre Familie erstmals mit US-Amerikanern in Kontakt, die den Ort am letzten Sonntag des April 1945 einnahmen. Die völlige Niederlage war da schon nicht mehr zu leugnen, auch wenn einige, wie eine offensichtlich durchgedrehte Krankenschwester im örtlichen Lazarett noch glaubten, mit Schüssen aus dem Hinterhalt das Ende aufhalten zu können. Nur um das eigene Ende umso schneller herbeizuführen und die übrigen Zivilisten einem tagelangen zermürbenden Beschuss auszusetzen.

Andere machen sich stumm und unsichtbar, um der Bestrafung zu entgehen, verkriechen sich in Löchern. Den ausgemergelten, abgerissenen Gestalten, die die US-Army dann zu Gesicht bekommt, schlägt weniger Hass als vielmehr Hilfsbereitschaft entgegen. Besonders von den „Schwarzen“, denen Ursula erstmals begegnet. Als sie, wie ihre Altersgenossen, bei den Besatzern bettelt, gibt es regelmäßig Lebensmittelpakete „for the babies“. Die Odyssee ist da aber noch nicht zu Ende. Ihren Ehemann lernt Ursula wenig später kennen. Der war Feuerwehrmann in Nürnberg und hatte den verheerenden Angriff auf die Stadt am 2. Januar 1945 hautnah erlebt.

Das Buch „Wir seh’n uns wieder am Drewenz Strand“ von Sebastian Brahn ist als Taschenbuch für 14,95 Euro im Buchhandel erhältlich. Am Freitag, 6. März, 20 Uhr, wird die Autorin Marjam Azemoun (Berlin) in der Stadtbücherei zum Internationalen Frauentag Literaturnobelpreis-Trägerinnen und ihre Werke vorstellen. Karten zu drei Euro an der Abendkasse.

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