Als Kind in Auschwitz: Überlebende erzählt in Forchheim
13.10.2019, 09:00 UhrDem „Verschlingen“, so die wörtliche Bedeutung, fielen nach neueren Forschungen zwischen 100.000 und 200.000 Menschen zum Opfer. Franz verlor ihre Mutter, eine acht Jahre ältere Schwester und viele weitere Angehörige. Die Sozialwissenschaftlerin Birgit Mair aus Nürnberg erläuterte im Dietrich Bonhoeffer-Haus neben der Christuskirche die historischen Hintergründe.
Häftlingsnummer "Z 4167"
Es ist ein Wunder, dass Eva Franz überhaupt hier sitzt. Wäre es nach der verbrecherischen Rassen-Ideologie des selbsternannten „Dritten Reiches“ gegangen, die Sintezza, die damals noch Christ hieß, hätte bereits ihre Kindheit nicht überlebt. Starben in dem „Zigeunerlager“ von Auschwitz doch 19.300 der 22.600 Häftlinge – an Hunger, Gewalt, Seuchen oder durch Giftgas. Als Zweijährige kam Franz mit ihrer Familie aus Fulda in den Block 25. Im März 1943 war das, wie ihre auf den Unterarm tätowierte Häftlingsnummer „Z 4167“ belegt. Andere Verwandte, wie ihr Großonkel, kamen wegen ihres hohen Alters gleich in die Gaskammer.
Die Zustände in den Baracken seien katastrophal gewesen, erzählt Franz. Es seien „viele, viele Leute“ darin gelegen – inmitten von Schmutz und Dreck. Die Kinder, aber auch viele Erwachsene hätten geweint. Einige Wochen konnte sich ihr Vater Emil, der ein angesehener Pferdehändler gewesen war, um seine Frau Anna und die beiden Töchter Franja und Eva kümmern. Dann verlegte man den 35-Jährigen, der noch im „Polen-Feldzug“ in Wehrmachtsuniform seinem Vaterland gedient hatte, in das berüchtigte Konzentrationslager Mauthausen.
Es habe keine Verbindung gegeben, so habe man nichts gewusst. Erst nach Kriegsende sah sie ihn wieder – als er sie mit dem Motorrad eines Freundes im Konzentrationslager Bergen-Belsen abholte.
Zuvor hatte Emil Franz mit waghalsigen Aktionen die Familie am Leben erhalten: Quer durch das Lager war er unter Lebensgefahr gelaufen, um von einem Bekannten aus der Küche einige Bissen zu organisieren. Da war Evas Schwester schon an Typhus gestorben. Zuletzt sei sie völlig entkräftet gewesen, habe immer Hunger gehabt. Eines Tages war sie tot.
Die zweite Tochter aber sollte weiterleben, sollte überleben. Die Mutter gab ihr das Essen heimlich unter der Decke, doch die anderen Häftlinge hätten es gerochen. Es begann ein großes Jammern und Betteln. Als man den Vater bei solch einer Aktion zur Nahrungsbeschaffung erwischte, wurde er auf dem Appellplatz öffentlich ausgepeitscht. Man habe ihn auf einen Lederbock gebunden, wie man ihn aus Turnhallen kennt. Sie selbst habe die Schläge nicht gesehen, weil ihr die Mutter das Gesicht zur Seite gedreht habe. Ihr Vater habe dann tagelang nicht liegen können.
Nur wenige Meter entfernt vom berüchtigten SS-Arzt Josef Mengele hätten sie gelebt, weiß Eva Franz noch. Der und seine Kollegen hatten immer wieder Sinti und Roma für seine pseudo-wissenschaftlichen, bestialischen Menschenversuche „verbraucht“, wie es im zynischen NS-Jargon hieß. Für das kleine Kind, das anfangs nicht wusste, in welcher Gefahr es schwebte, begann eine schreckliche Zeit. Wobei Franz nur wenige, dafür umso grausamere Erinnerungen an den Aufenthalt hat.
Etwa, dass ihre Mutter sie vor dem unter Strom stehenden Stacheldrahtzaun gewarnt habe – „Maus, da darfst Du nicht hingehen, weil da machst Du Dich aua“. Als dem kleinen Mädchen eines Abends ein Schornstein auffiel, der Feuer spuckte, habe die Mutter ihr erklärt, dort werde Brot für sie gebacken. Erst später habe sie erfahren, dass in dem Krematorium Dutzende ihrer Verwandten verbrannt worden waren. Um keine Spuren des Massenmordes zu hinterlassen.
Als das Lager im Mai 1944 wegen der heranrückenden Sowjettruppen aufgelöst wurde, kam die 31-jährige Anna Christ als eine von 144 Frauen mit ihrer Tochter ins Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück. In Waggons, begleitet von SS-Leuten mit scharfen Hunden und ständigem „Schnell, schnell!“-Gebrüll sei man in den Norden Berlins gebracht worden. Hier in Brandenburg musste die geschundene Frau Sklavenarbeit im „Straßendienst“ leisten. Das Pflastern bei Wind und Wetter und unter ständigen Schlägen gehörte zum perfiden Plan der „Vernichtung durch Arbeit“. Sie überlebte nicht lange. Eines Tages sei sie umgefallen. „Mama, mach Deine Augen auf. Lass mich nicht alleine“, an ihre Worte erinnert sich Franz. Sie habe nicht begriffen, dass ihre Mutter tot war.
Eine Freundin der Mutter kümmerte sich fortan um das Mädchen und nahm sie auch mit – als es ins Konzentrationslager Bergen-Belsen ging. Dort inmitten der Lüneburger Heide trafen die britischen Truppen auf rund 60.000 lebende Leichen. Viele von ihnen starben noch nach der Befreiung.
Nicht so Eva Franz, die als Waisenkind für eine Adoption in den Vereinigten Staaten vorgesehen war. Im Nothospital päppelten Krankenschwestern die Kleine wieder auf. Hier im „Schlaraffenland“ fand sie ihr Vater und brachte sie heim nach Fulda. Sie habe ihn umarmt und nicht mehr losgelassen.
Der Kampf für Gerechtigkeit
Die Familie zog nach Nürnberg um. Dort bekam Franz ihre „zweite Mutter“, ging zur Schule und heiratete mit 17 Jahren. Sie bekam fünf Kinder. Lange hat sie geschwiegen. Nicht einmal ihre Kinder wussten vom Martyrium der Mutter. Dafür kämpfte sie fast drei Jahrzehnte darum, als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt zu werden. Denn die rassistische Ideologie wirkte noch bis in die 1980er Jahre in den Ämtern.
Erst ein Hungerstreik in der Gedenkstätte Dachau 1980, an dem auch ein Schwiegersohn beteiligt war, brachte die Politik zum Handeln. SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt erkannte 1982 den Völkermord an den Sinti und Roma als einen solchen an. Eva Franz will weiter davon berichten – damit die Jugend aufwache und kämpfe, damit sich derartiges nicht noch einmal wiederhole.
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