Betroffene aus Franken erzählen: So geht es in der Pflege wirklich zu

Patrick Schroll

Redakteur Nordbayerische Nachrichten Forchheim

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22.8.2019, 05:59 Uhr
Betroffene aus Franken erzählen: So geht es in der Pflege wirklich zu

© Foto: AFP PHOTO/Eric Cabanis

Es ist ein Heim irgendwo in der Region und eine Bewohnerin, die einen Namen hat, ihn aber nicht in der Zeitung lesen möchte. Aber die Geschichte, die sie uns erzählt, könnte eine sein, die so oder so ähnlich in vielen anderen Heimen Deutschlands erzählt wird. Nur weil die Redaktion der Bewohnerin und der betroffenen Heimleitung zusichert, im Artikel anonym zu bleiben, können sie ein offenes Gespräch mit uns führen. Frei von der Angst, Konsequenzen fürchten zu müssen.

Der Gesichtsausdruck der Frau wirkt fröhlich, als wir sie treffen, doch durch ihre Augen schimmert Traurigkeit. Im Pflegeheim leben – so hat sie sich ihren Lebensabend nicht vorgestellt. Nennen wir sie Gertrud. Und Gertrud fühlt sich alleine, obwohl sie 24 Stunden täglich von Menschen umgeben ist. Von Mitbewohnern, Pflegekräften und Freunden, die sie besuchen, so oft es ihnen möglich ist. Doch für die Mittsiebzigerin bleibt das erdrückende Gefühl der Einsamkeit, das Gefühl, im Heim am falschen Platz zu sein. Ihr Leben dort bezeichnet sie als "Kampf".

Sie braucht Hilfe. Der Gang zur Toilette fällt schwer. Windeln müssen ihn immer wieder ersetzen. Gertrud leidet an Inkontinenz, Einlagen geben ihr Sicherheit, falls es schnell gehen muss. Doch der Vorrat reicht nicht immer aus, sagt sie. In der Not greifen die Pfleger zu Handtüchern und umwickeln Gertrud damit. Gertrud hat daraus gelernt und ein Paket Windeln versteckt.

Hat die Windel ihren Dienst getan, bleibt sie am Körper von Gertrud. So schildert sie es. "Die Windel muss ausgenutzt werden, man kann da auch ein drittes Mal reinmachen", soll es hin und wieder von den Pflegern heißen. "In große Einlagen soll ich zwei Mal machen, aber ich will nicht im Nassen sitzen. Meine Blase richtet sich nicht nach der Vorgabe des Pflegepersonals." Lassen die Pfleger Gertrud in ihrem eigenen Urin zurück? Es ist, das stellt sich im ausführlichen Gespräch mit ihr heraus, einer der schwerwiegendsten Vorwürfe.

Aus hygienischen Gründen nicht nötig

Wir haben die Leitung der Einrichtung mit dem Vorwurf konfrontiert. Von dort heißt es ganz klar: Das kommt nicht vor. Der Leiter, wir nennen ihn Peter Stein, vermutet, dass die Windel nur mit einem Tropfen gefüllt war. Es komme immer wieder vor, dass Bewohner in solchen Fällen sofort auf eine neue Einlage bestünden. Das sei aus hygienischen Gründen nicht nötig.

Weder habe das Personal Zeit dafür, noch reichen die Windeln dafür aus. Ist es das zu eng geschnürte Korsett aus Zeit und Kosten, das der Pflege nicht genügend Luft lässt, um die Bewohner angemessen zu behandeln? "Nein", sagt Stein.

Die Anzahl der Mitarbeiter bestimme nicht das Heim, sondern bestimmten die Pflegegrade der Bewohner. "Jedes Heim würde das Personal, das es über die Berechnung der Pflegegrade bekommt, auch einstellen." Stressige Zeiten will Stein nicht leugnen. Doch die seien nicht die Regel und schon gar nicht einem Kostendruck geschuldet. Schuld sei mal eine Grippewelle, die den Krankenstand hochschnellen lässt, oder der Fachkräftemangel. Qualifiziertes Personal zu finden, gleicht der Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen. Und der Haufen werde immer größer.

"Sind gezwungen, ungelernte Kräfte einzustellen"

"Wir sind oft gezwungen, ungelernte Kräfte einzustellen." Der Markt ist leergefegt, ausverkauft. Druck mache auch die Arbeitsagentur. "Sie drängt Menschen in die Branche, die bisher noch nie im Pflege- oder Sozialbereich gearbeitet haben." Die Folge dieser Arbeitsplatzvermittlung: "Die Arbeitsmoral ist häufig gering."

Ebenso die Qualität der Ausbildung, die die neuen Hilfskräfte aus ihrem Lebenslauf mitbringen. Stein: "Da soll aus einer ehemaligen Bürokraft ein Pfleger gezaubert werden." Aus der Arbeit hinter dem Schreibtisch wird eine körperlich anstrengende, mit Schichten am Wochenende und an Feiertagen. "Doch wir müssen sie teilweise einstellen, weil uns nichts anderes übrig bleibt. Gute Hilfs- oder Pflegekräfte sind schwer zu finden."

Gertrud fühlt sich vielleicht auch deshalb immer wieder falsch behandelt. Niemand habe Zeit für ein gutes Wort. Immer wieder fallen barsche Töne, schildert es die Bewohnerin. Eine Fach- und eine Hilfskraft seien in der Nacht für 100 Leute im Einsatz, manche verstünden nur schlecht die deutsche Sprache. Die Hälfte der Zeit, die eine Fachkraft für einen Mitbewohner zur Verfügung hat, verbringt sie vor Formularen oder dem Computer. Die Bürokratie nimmt überhand, ärgert sich Heimleiter Stein. "Das ist ein riesiges Problem."

Die Zeit, die sich Bewohner wünschen, "ist nicht möglich"

Doch selbst unter Idealbedingungen: "Die Zeit, die sich manche Bewohner wünschen, ist nicht möglich. Gespräche sind in unserem Pflegesystem einfach nicht finanziert."

Apropos Geld. "Ich finde nicht, dass Fachkräfte schlecht bezahlt sind", sagt Stein. Mit Zuschlägen für die Arbeit in der Nacht, an Feiertagen oder am Wochenenden kämen Vollzeitangestellte auf rund 2800 Euro brutto. Da könne sich niemand beschweren. Doch es gibt Unterschiede: "Private Träger zahlen weniger als Einrichtungen, die von Wohlfahrtsverbänden getragen werden." Die hielten sich meist an den Tarif. Die Politik müsse handeln, damit sich auch private Träger an die tariflichen Vereinbarungen halten. "Der Druck würde dann wegfallen." Doch wer seine Mitarbeiter nach Tarif bezahlt, müsse am Ende auch mehr Eigenanteil von den Bewohnern verlangen, meint Stein.

Die Kosten für einen Platz im Pflegeheim teilen sich Pflegekasse und Bewohner auf. Je nach Pflegegrad – in Deutschland gibt es fünf Abstufungen – erhält eine Einrichtung einen festgelegten Satz für Fachkräfte, den Rest gibt das Heim dazu. Diesen Heimanteil legt eine Einrichtung auf die Bewohner samt Kosten für Unterkunft und Verpflegung um. Sie zahlen ihren Eigenbeitrag abhängig von ihrem Pflegegrad. "Die Gewinnmargen sind überschaubar", urteilt Stein und sagt voraus, dass sich deshalb der Trend fortsetzt und sich kleinere Einrichtungen zu großen zusammenschließen. So lassen sich Kosten auf mehr Bewohner aufteilen. "Kleine Heime werden sich mittelfristig nicht mehr tragen."

Generelles Problem mit Qualität in der Pflege?

Es gibt Pflegeeinrichtungen, die unter dem Dach einer Aktiengesellschaft (AG) arbeiten. "Bei einer AG fließt der Gewinn in die Dividende für die Aktionäre. Der kommt nicht bei den Mitarbeitern an, auch wenn die Firmen immer wieder davon sprechen, dass die Mitarbeiter das Wichtigste sind."

Peter Stein hat im privaten Sektor bereits mehrere Einrichtungen von innen kennenlernen können. "Wohlfahrtsverbände schütten ihre Gewinne nicht aus, sondern investieren sie in ihre Mitarbeiter."

Ein generelles Problem mit der Qualität in der Pflege will Stein daraus aber nicht ableiten. Gesetze garantierten einen Mindeststandard. Schwerer wiege das Image der Branche. Die sei in den vergangenen Jahren in Verruf geraten. Dies bereite ihm bei der Suche nach qualifiziertem und motiviertem Personal Probleme.

"Ich vergleiche das mit den Handwerkern", sagt Stein. Dreckige und anstrengende Arbeit, schlechter Verdienst: Über Jahre hätten sie mit Vorurteilen zu kämpfen gehabt. Ein Uni-Abschluss sei für das Nonplusultra erklärt worden. Zahlen in der Statistik belegen den Uni-Trend.

Gertrud zeigt sich milde: "Ich weiß, dass es die Probleme auch in anderen Heimen gibt." Sie kenne die finanziellen und personellen Zwänge. Trotzdem ärgert sie sich. Rund 1700 Euro im Monat müsse sie aus ihrem eigenen Geldbeutel zahlen. "Und das Essen ist eng bemessen. Ein Nachschlag ist oft nicht möglich und alle zwei Wochen wiederholt sich das Menü."

Eng bemesssenes Budget

Und wenn es eine Woche lang Paprikawurst zum Abendbrot gibt, weicht sie den Zwängen im Heim aus und lässt sich Mitgebrachtes schmecken. Darauf angesprochen, zweifelt der Heimleiter auch hierbei nicht an der Qualität. Abwechslung sei garantiert, doch das Budget dafür eng bemessen.

Am Ende des Tages zählt für Gertrud auch, ob sie ein Lächeln mit in die Nacht nehmen kann. "Ich weiß, dass die Mitarbeiter ihr Bestes geben. Und ich weiß, dass sie nur das ausbaden müssen, was weiter oben passiert", sagt sie und meint damit die Politik.

Heimleiter Stein sieht das genauso. "Doch niemand geht auf die Straße und erhebt seine Stimme für eine bessere Pflege. Ich habe das Gefühl, keine Sau interessiert sich dafür, bis sie selbst davon betroffen sind. Dann ist das Geschrei groß."

Es gibt sie, die Momente, in denen Gertrud gemeinsam mit den Pflegern die Tränen in die Augen schießen. "Sie setzen sich auf mein Bett und weinen, weil sie nicht mehr können." Die Sonne verschwindet langsam hinter den Bäumen. Ein lauer Spätsommerwind stupst Blätter an, die wärmenden Strahlen lassen sie golden funkeln.

Eine fröhliche Szene, doch Gertrud ist traurig. Sie fühlt sich im Hier und Jetzt gefangen, im Pflegeheim, das ihr keine Heimat ist. "Man darf froh sein, wenn man vorher die Augen zumacht, bevor man in ein Heim kommt." Sie blinzelt, weil sich ihre Augen mit Tränen füllen.

Angebote für Senioren im Überblick

Im Landkreis Forchheim gibt es 13 stationäre Pflegeeinrichtungen, fünf ambulant betreute Wohngemeinschaften und fünf stationäre Einrichtungen für Menschen mit Behinderung. In den 13 stationären Pflegeeinrichtungen werden insgesamt 914 Plätze vorgehalten.
Die Angebote zum „Betreuten Wohnen“ sind vielfältig, hierbei ist Pflegebedürftigkeit keine Voraussetzung. Betreutes Wohnen ist kein geschützter Begriff und darf von jedem frei verwendet werden. Bürger sollten sich umfassend über anfallende Kosten informieren. Das Wohnforum 60plus der Wir-für-uns-eG (Nachbarschaftliche Hilfe) vermittelt Wohnungen und Wohngemeinschaften für SeniorInnen in Heroldsbach und Hausen.

Die Fachstelle Pflege- und Behinderteneinrichtungen – Qualitätsentwicklung und Aufsicht am Landratsamt ist für die Heimaufsicht zuständig. Jede Einrichtung wird einmal jährlich routinemäßig überprüft. Die Anzahl festgestellter Mängel in stationären Einrichtungen schwankt jährlich. 2012 waren es 16. 66 waren es 2017. Silke Vahle ist für diesen Bereich Ansprechpartnerin; Telefon (0 91 91) 86 22 26.

Über Sozialleistungen im Alter berät die Leistungsabteilung im Fachbereich 22; Telefon (0 91 91) 86 22 00. Zudem berät die Stelle zu Themen wie Vorsorgevollmacht, Betreuungsverfügung und Patientenverfügung, Antragstellungen für Renten und Schwerbehinderung. Finanzielle Hilfen zur Pflege werden vom Bezirk Oberfranken bearbeitet. Pflegeberatungen führen Birgit Pohl, Diakonie; Telefon (0 91 91) 6 15 60 71 und Elisabeth Schroeter, Caritas; Telefon (0 91 91) 35 96 34 durch.

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