Ein Eiffelturm für Forchheim: Wie Siemens an der Zukunft baut
20.1.2021, 16:00 UhrEs sind kleine Erdbeben, die wiederkehren und den Boden in Forchheim-Süd vibrieren lassen. Sie entstehen, wenn der sieben Tonnen schwere Stempel die Pfähle bis zu zwölf Meter in den Boden rammt. Bis zu 15 Schläge braucht es pro Meter. Dann steckt der Pfahl tief und fest genug im Boden. Macht 144 000 wuchtige Schläge für 800 Stahlsäulen. Sie sind das Fundament für 700 Menschen und mehrere Maschinen, die künftig im 217 Meter langen und 60 Meter breiten Technologie-Campus von Siemens Healthineers zu Hause sind.
Ab der geplanten Inbetriebnahme im Jahr 2023 entstehen an dieser Stelle neueste medizinische Komponenten für die Computertomographie oder auch Mammographie. Bisher sind die Prozesse in Erlangen beheimatet, weshalb die neuen Mitarbeiter am neuen Campus hauptsächlich alte sind – sie ziehen mit ihren Arbeitsplätzen von der Hugenotten- in die Königsstadt um.
Für die Arbeiter wird der Arbeitsweg kürzer
"Wichtig ist, dass die Kaufkraft und Wertschöpfung in der Region bleibt", sagt Forchheims Oberbürgermeister Uwe Kirschstein (SPD). Einen Vorteil haben Mitarbeiter, die heute schon aus der Region Forchheim und der Fränkischen Schweiz kommen: Ihr Arbeitsweg wird kürzer.
Eine zentimeterdicke Schneedecke liegt auf zwei Fußballfeldern. So groß ist die Grundfläche des neuen Gebäudes zwischen Hafenstraße auf der einen und Kanal auf der anderen Seite. Eine handvoll Arbeiter stehen in einer Grube aus Stahl. Gitter ragen aus dem und über den Boden, im regelmäßigen, gerade mal handbreiten Abstand. Der Chef der Baustelle outet sich, indem er seinen Arbeitern Anweisungen gibt, während er auf die Stahlgitter deutet. Die Sprache, die über die Baustelle an diesem kalten Januarmittag hallt, bringt eine südosteuropäische Klangfarbe nach Forchheim.
Kommentar: Der Siemens-Erfolg hat auch Folgen für die Region
Es geht um Zentimeter, die über die Tragfähigkeit des künftigen Gebäudes entscheiden. Das ist das Ergebnis komplexer statischer Berechnungen, erklärt Baustellenleiter Thomas Haas. "Wir brauchen Masse, um Stabilität in das ganze Gebäude zu bringen."
Alleine nur für das künftige Bürogebäude braucht es 750 Tonnen Eisen und 2400 Kubikmeter Beton. Für den kompletten Campus das Doppelte. "Mit der Menge Stahl könnten wir den Pariser Eiffelturm bauen", sagt Peter Hackenschmied, Leiter der Produktsparte, die in Forchheim ein High-Tech-Zuhause bekommt.
314 Meter hoch, vor 134 Jahren gebaut und ein Zeichen für den technologischen Aufbruch in die Moderne: Das ist der Eiffelturm. Für die Moderne soll auch der Siemens-Campus in Forchheim stehen. Industrie 4.0 heißt das heute und steht für das Schlagwort Digitalisierung – die industrielle Revolution der Gegenwart. "Wir bewegen uns in eine neue Ära", sagt Thorsten Reichert. Zusammen mit 15 Kolleginnen und Kollegen überwacht er das 350-Millionen-Euro schwere Bauprojekt in einem Containerbau auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Das Beben ist ein Fortschritt
Den Baufortschritt sehen ist das eine. Ihn zu spüren das andere. Jeder sieben Tonnen wuchtige Schlag auf die Pfähle löst im Container ein kleines Erdbeben aus. Davon lässt sich niemand beunruhigen. Das Beben ist ein Zeichen des Fortschritts.
Nicht nur Forchheim, sondern auch die umliegenden Gemeinden werden mit Siemens wachsen, prognostiziert Kirschstein. Siemens spült auch Gewerbesteuer in die Stadtkasse. Geld, das bisher nicht vorhanden war. Was sich auch im Zustand der Gebäude der Stadt und der Kulturarbeit widerspiegele. "Wir mussten in der Vergangenheit stärker auf den Euro schauen, was zu Verzögerungen geführt hat", sagt Kirschstein. Jetzt könnten Projekte wie die Generalsanierung des Rathauses oder eine professionalisierte Kulturarbeit angegriffen werden. Punkte, die wiederum auch die neuen Siemens-Mitarbeiter vorfinden und nach Feierabend in der Stadt halten sollen.
Die Zukunft auf dem Campus, das sind Maschinen, die sich selbstständig miteinander unterhalten, sich abstimmen, dem Menschen sekundengenau und detailgetreu mitteilen, wann Material verbraucht sein und neues gebraucht werden wird, die ihre Fehler selbst protokollieren und den Erfolg in Zahlen ausdrücken. "Wir machen das aber nicht, um Mitarbeiter einzusparen", sagt Hackenschmied. "Es geht um Prozesse, die teilweise am besten mit Roboterunterstützung funktionieren. Mit durchgängigen Datenströmen in Echtzeit können wir schnell reagieren."
Siemens will so höchste Qualität für seine Produkte erreichen. Waren, die auf dem weltweiten Markt stark gefragt sind. Die hohe Nachfrage ist der Grund für das Mammutprojekt. Immerhin eine der größten Investitionen in der Unternehmensgeschichte.
Möglichst fehlerlos
Die digitale Welt soll in der analogen Welt Fehler bestenfalls erst gar nicht entstehen lassen. Es sei ein Vorteil der Digitalisierung, erste Fehler in der Konstruktion von Maschinen oder Produktionsabläufen schon im Voraus zu erkennen, sie auszumerzen, bevor es in die Produktion geht. Jede Maschine wird bis auf das kleinste Einzelteil bereits in Simulationen zum Leben erweckt und überprüft. Industrie 4.0 erklärt Hackenschmied für Forchheim zum neuen Standard, spricht von einer "Leuchtturm-Fertigung".
Über Bayern und darüber hinaus strahlt dieses Licht. Davon ist Wirtschaftsförderer Viktor Naumann überzeugt. "Wir haben als Stadt auf das richtige Pferd gesetzt und die richtige Branche angesiedelt." Mit dem 2017 eröffneten Medical Valley Center hat sich die Stadt zum Tal der Medizintechnik entwickelt. "Eine Zukunftsbranche", sagt Naumann. "Forchheim ist der bayernweite Hotspot in der Produktion von Medizintechnik." Der Siemens-Sog zieht weitere Unternehmen an, hofft der Wirtschaftsförderer. Mit dem neuen Campus werde Forchheim "noch präsenter auf dem Radar der globalen Medizintechnik sein".
"Dominierende Stellung ist nicht zum Nachteil der Stadt"
Schon heute sind Handwerks- und stärker noch Logistikbetriebe im Süden der Stadt mit Siemens verbandelt; liefern der Produktion zu und die fertigen Produkte wie Computertomographen in die Welt. "Die dominierende Stellung von Siemens ist nicht zum Nachteil der Stadt", sagt Naumann. In Stadt und Landkreis Bamberg hat sich gezeigt, was passiert, wenn eine Branche in die Krise rutscht. Zulieferer und von der Automobilbranche abhängige Unternehmen sind vom Wandel zum E-Auto hin stark betroffen. Dass Forchheims Süden einmal das gleiche Schicksal ereilen könnte, sieht der Wirtschaftsförderer nicht: "Siemens Healthineers ist in der richten Zukunftsbranche."
Auch die Grünen in der Stadt sehen das so. "Freilich müssen wir darauf achten, nicht nur auf die großen Player zu schielen. Denn wenn eine solche Firma kriselt, kriselt die ganze Wirtschaft der Stadt", sagt FGL-Fraktionsvorsitzender Gerhard Meixner. Mit Folgen für den lokalen Arbeitsmarkt.
So arbeiten die 700 Mitarbeiter in der High-Tech-Fabrik
Neben der künstlichen Intelligenz arbeiten auf sechs Büroetagen künftig rund 230 Menschen in der High-Tech-Fabrik. Im Erdgeschoss des Komplexes ist ein Bistro geplant, vom Schreibtisch aus blicken die Mitarbeiter – "wissenschaftliches Personal" – gen Hausen, in die Natur und auf den Kanal. Daran angeschlossen ist die Entwicklungs- und Fertigungshalle. Auf drei Geschossen, gut 20 Meter hoch, sind weitere 470 Menschen in der Fertigung beschäftigt. Beide Gebäude sind miteinander verbunden. Das soll den Austausch zwischen Wissen auf der einen und der praktischen Umsetzung auf der anderen Seite fördern, für "das beste Arbeitsergebnis", so Hackenschmied. Die SPD freut sich auf die Qualität der Arbeitsplätze. "Wir schaffen tarifgebundene, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze im Produktionsbereich", sagt Fraktionsvorsitzender Reiner Büttner.
Bisher läuft die Baustelle nach Plan. Nur die feierliche Grundsteinlegung hat Corona verhindert. Hätte sich Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) nicht um das Virus kümmern müssen, hätte er in Forchheim symbolisch den Startschuss für den Campus gegeben.
Fahren fahrerlose Fahrzeuge über die Straßen der Stadt?
Die 350-Millionen-Euro-Investition sei ein klares Signal und Bekenntnis. Für den Medizinstandort Deutschland wie auch für Forchheim. An der Lände im Süden der Stadt hat sich in den vergangenen Jahren das medizinische Know-How des Weltkonzerns konzentriert. Der entstehende HEP-Campus, wie er im Siemens-Jargon heißt, ist das I-Tüpfelchen. Vorläufig.
Was nach dem Campus kommen könnte, käme einem Blick in die Glaskugel gleich, heißt es. Konkreter ist die Idee von Projektleiter Thorsten Reichert. Die fertigen Produkte, die die High-Tech-Fabrik künftig ausspuckt, könnten mit höchst ausgeklügelter Technik die Hafenstraße überqueren, um auf der gegenüberliegenden Seite für den Transport vorbereitet zu werden: mit völlig automatisierten, fahrerlosen Fahrzeugen.
Bald bebt wieder die Erde
Für den Campus braucht es Platz. Dafür zieht der BayWa-Konzern in das Gewerbegebiet "Am Bertelsweiher" um. Bis März steht das Gebäude samt seiner sieben Silos noch in der Hafenstraße, bis die Bauarbeiter wortwörtlich von Norden aus immer näher rücken. Entlang der Kanalseite wird es dann einen fließenden Übergang geben, von der Siemens-Gegenwart in die Zukunft. Nichts trennt die Siemens-Gebäude dann mehr. Das ist erklärtes Ziel.
Die Transformation ist bald auch von Weitem zu sehen: In wenigen Wochen entsteht das erste Treppenhaus am Campus an der Hafenstraße. Und sie wird wieder zu fühlen sein: mit einer Erde, die bebt.
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