"Gehen lernen ist wie Vokabeln pauken"

20.1.2021, 11:19 Uhr

© Foto: Roland Fengler

Unsere Gesprächspartnerin Andrea Dodenhöft-Neukam (47) hat zunächst eine Ausbildung zur Physiotherapeutin absolviert und seit 1998 eine eigene Praxis. 2008 folgte zunächst eine Ausbildung für Osteopathie, seit 2016 darf sie sich neben zahlreichen Zusatzausbildungen nach einem Studium in Dresden auch Master of Science in Osteopathy nennen. Sie bildete selbst sowohl Osteopathen als auch Physiotherapeuten aus. Sie praktiziert in Neuendettelsau und Fürth.

Frau Dodenhoft-Neukam, bin ich denn ein Einzelfall?

Andrea Dodenhöft-Neukam: Nein, es ist schon sehr auffällig, wie viele Patienten jetzt mit Problemen zu mir kommen, die entweder darunter leiden, dass sie ihr gewohntes Sportprogramm wegen des Lockdowns nicht absolvieren können, im Home Office ungünstig sitzen oder auch durch die Ängste im Zusammenhang mit der Pandemie erkranken.

Wie das?

Andrea Dodenhöft-Neukam: Angst ist ein echter Stressfaktor, der zu Verkrampfungen nicht nur psychischer Art führen kann.

© Foto: Gerda Eyrich-Dürr

Kommen wir zum Bandscheibenvorfall: Das tut so weh, da möchte man sich am liebsten nur noch hinlegen . . .

Andrea Dodenhöft-Neukam: Eine schlechte Idee. Denn der Körper braucht in vielerlei Hinsicht Bewegung – etwa für die Knochendichte beziehungsweise den Knochenaufbau, die Muskeln, die Koordination, außerdem zur Stärkung des Immunsystems. Gelenke brauchen Bewegung damit sie versorgt werden können. Knorpel werden nicht über das Blut versorgt wie andere Körperteile oder Organe, sondern über Diffusion. Durch Druck werden Stoffwechselprodukte (wie bei einer Entzündung) ausgeschwemmt, durch das Loslassen und den dadurch entstehenden Unterdruck saugen sie Nährstoffe ein – ähnlich einem Schwamm. Durch Nichtstun reichern sich diese Botenstoffe also nur weiter an – die Entzündungsreaktion wird stärker.

Ein Teufelskreis!

Andrea Dodenhöft-Neukam: Wir sprechen von Fazilitation. Einfach ausgedrückt ist das fazilitierte Segment ein Segment mit niedriger Reizschwelle, das dadurch überempfindlicher reagiert und somit falsche Signale an die unterschiedlichen Strukturen schickt. Durch die ständige Befeuerung kommt es zu vermehrter Spannung und Gewebeveränderung. Und dadurch, dass man sich (vor allem) nachts nicht bewegt, kommt es dann zu für den Patienten verstörenden Phänomenen wie dem Anlaufschmerz: Da schläft er wunderbar durch, doch nach den ersten Schritten – beispielsweise ins Badezimmer – ein heftiger Schmerz in der betroffenen Region. Da hat sich unter anderem der Botenstoff "Substanz P" (das P steht für Pain, englisch für Schmerz), ein Protein aus der Familie der Neuropeptide, massiv angereichert.

Also doch bewegen, auch wenn es weh tut?

Andrea Dodenhöft-Neukam: Ja. Denn meistens ist der Körper bereits lange vorher zur Kompensation übergegangen. Der Körper schaltet selbst auf Schonhaltung um und nimmt Körperteile aus Bewegungsmechanismen raus – im konkreten Fall die beschädigte Bandscheibe. Die Wirbel darüber und darunter übernehmen dessen Arbeit, was wiederum zu ungewöhnlichen Bewegungen und auf Dauer zu Schädigungen dieser Nachbarn führt. Ähnlich ist es auch, wenn ein steifes Becken beim Laufen fast ausfällt. Dann müssen zum Beispiel Rücken und Knie – es könnte auch ein anderes Gelenk sein einspringen.

Und dann leiden die als nächste?

Andrea Dodenhöft-Neukam: Richtig. Weil das Becken nicht in die richtige 3D-Bewegung kommt, hilft zum Beispiel der untere Teil des Rückens aus, der kann aber nur Extension und Flexion, also Streckung und Beugung. Daher schiebt der Patient den Po nach hinten raus. Das Problem verlagert sich in die Lendenwirbelsäule, die für eine solche Belastung nicht gebaut ist – ein Bandscheibenvorfall kann da die Folge sein.

Warnt uns der Körper nicht vor solchen Schäden?

Andrea Dodenhöft-Neukam: Das tut er durchaus. Wir müssten die Signale nur erkennen. Aber wir sind auch so sozialisiert worden, dass unser Gehirn Schmerzen so lange ausblendet, bis es gar nicht mehr geht. Das fängt schon in der Schule an, wenn ein Kind sagt: "Ich kann nicht mehr sitzen." Das empfindet es wirklich so, muss dann aber trotzdem in dieser Position ausharren, für die der Mensch eigentlich nicht konstruiert ist.

Wie kommt bei solchen Problemen die Osteopathie ins Spiel?

Andrea Dodenhöft-Neukam: Wir untersuchen genau, was das Problem verursacht und wo überall Spannungen vorhanden sind – durch Anschauen, Fühlen und Tests. Stärker als andere Disziplinen behandeln wir auch benachbarte Strukturen. Einfach gesagt: Zwickt der Rücken, dann stimmt auch häufig etwas mit der Bauchspannung nicht. Wir versuchen dann, die auslösenden Strukturen zu lockern und zu entspannen, damit der Patient wieder rauskommen kann aus der Schonhaltung. Aber ganz wichtig: Es gibt kein allgemein gültiges Rezept, sondern für jeden Menschen nur eine individuelle Lösung.

Welche Aktivitäten sind denn in meinem akuten (Schmerz-)Stadium angesagt?

Andrea Dodenhöft-Neukam: Auf jeden Fall ist Gehen wichtig – auch wenn das für den Laien auf den ersten Blick schwer nachvollziehbar klingt. Dazu anfangs kurze Strecken. Kleine und kontrollierte Bewegungen im Rücken, beispielsweise mit dem Pezziball. Wichtig ist es, diese Übungen regelmäßig in den Tagesablauf einzubauen, sie bewusst zu wiederholen und auf seinen Körper zu hören.

Worauf muss man beim Gehen achten?

Andrea Dodenhöft-Neukam: Da gibt es viele Punkte, weil besonders die richtige Beckenbewegung so komplex ist. Eigentlich besteht sie ja aus vielen kleinen Bewegungen. Durch zu viel sitzende Tätigkeit und zu wenig Sport im Alltag haben viele Menschen das Muster für das richtige Laufen nicht mehr im Kopf. Das müssen wir wieder lernen, und ich vergleiche das gerne mit dem Pauken von Vokabeln: Ohne ständige Wiederholung prägt sich das nicht ein.

Was konkret muss man also tun?

Andrea Dodenhöft-Neukam: Auf jeden Fall sollte man eher flott gehen, um nicht ins "Schlurchen" zu verfallen, das ja auch wieder eine Art Schon-Verhalten ist. Man sollte möglichst alle beteiligten Muskelgruppen mitnehmen – also gegengleich die Arme schwingen lassen. In der Evolution hat der Körper einst gelernt, Kalorien zu sparen, wo es geht, weil der Mensch anfangs eher nicht immer genug zu essen hatte. Große Muskelgruppen werden daher lieber geschont, weil sie viel Energie verbrauchen. Also bewusst darauf achten, dass man richtig geht.

Und wie sieht das im Idealfall aus?

Andrea Dodenhöft-Neukam: Ich persönlich gebe immer Teil-Hausaufgaben. Zum Beispiel den Fersenaufsatz und die Abrollmechanismen, um hierdurch die Beckenbewegung zu initiieren. Weitere Kernpunkte sind das Hochziehen des Vorfußes (wegen der Fallprophylaxe), die nach vorne gerichtete Beckenbewegung – kein seitliches "Wackeln" mit dem Po –, der gegengleiche Armschwung, die aufrechte Haltung und eine leichte Außendrehung der Füße.

Kranke sind ja oft ungeduldig. Kann man denn auch zu viel machen und damit den Heilungsprozess bremsen?

Andrea Dodenhöft-Neukam: Ungeduld ist ein schlechter Berater. Am Anfang sind kürzere Spaziergänge zu empfehlen, bei denen man aber bewusst darauf achtet, richtig zu gehen. Ermüdet der Körper, schafft er die richtigen Bewegungen nicht mehr – und fängt wieder an zu "schlurchen". Jeder muss da sein individuelles Tempo finden.

Welches Schuhwerk sollte man tragen?

Andrea Dodenhöft-Neukam: Das ist ganz schön tricky. Unser Körper braucht im Prinzip immer neuen Input, sonst "langweilt" er sich. Das heißt, man sollte immer wieder andere Schuhe tragen, um einen Effekt zu erzielen. Das Gleiche gilt übrigens auch für die Verhaltensregeln im Alltag. Bei Bürojobs zum Beispiel sind häufige Positionswechsel optimal: Zwischen Schreibtisch und Stehpult. Hat man Letzteres nicht, dann mal zwischendurch auf dem Stuhl knien oder eine Zeitlang ein Keilkissen verwenden. Wenn wir sechs Stunden statisch sitzen, ist das verheerend. Ich bringe für meine Patienten gerne den Vergleich, dass sie sich vorstellen sollen, genauso lange eine vier Kilogramm schwere Einkaufstasche am gleichen Arm zu tragen. Das klingt erst einmal nach nicht viel, aber nach einer gewissen Zeit wird die Muskulatur total fest – in beiden Beispielen.

Was wäre dann also das Ziel der osteopathischen Behandlung?

Andrea Dodenhöft-Neukam: Natürlich soll der Patient vor allem wieder gesund werden. Aber er soll auch verstehen lernen: Warum passiert mir das?

 

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