Leben im Stasi-Staat: Karl-Heinz Richter in Gräfenberg
11.01.2014, 11:00 Uhr
„Ihr habt es gut, dass ihr hier leben dürft – ich hatte es nicht so gut“, sagt Karl-Heinz Richter, in Freundeskreisen nur „Kalle“ genannt. Er wurde 1946 in Schwarzheide im Oberspreewald in einer bürgerlichen Familie geboren. Seine Oma Paula, „eine vom Kommunismus geprägte Frau“, hatte schon während der NS-Zeit gegen das herrschende Regime opponiert. Von ihr habe er die Aufklärung erfahren, um sich während seiner Schulzeit gegen das SED-Regime aufzulehnen. Keinesfalls wollte er sich einer kommunistischen Diktatur beugen.
„Ich war einfach ein arrogantes Arschloch“, bezeichnet sich der Erzähler auf gut Berlinerisch selbst. Weil seine Eltern nicht zu den Privilegierten zählten, wurde ihm das Abitur verwehrt. So sei er mit der Mittleren Reife von der Schule abgegangen, erzählt er, und hätte eine Ausbildung zum Büromaschinenmechaniker begonnen. Sportlich war er als Ringer erfolgreich. Im Januar 1964 plante er, mit sieben Ostberliner Jugendlichen, aus der DDR zu fliehen. Im Abstand von etwa drei Wochen schlichen sich je zwei von ihnen auf ein nicht genutztes Gleisbett hinter dem Bahnhof Berlin-Friedrichsfelde, dem letzten Halt eines Zuges vor dem Westen. Allein oder zu zweit sprangen sie aus einem Versteck auf den anfahrenden Nachtzug, um von Ost- nach West-Berlin zu kommen. Bei seinem Versuch stolperte Richter und schaffte es nicht auf den Zug. Um nicht von Grenzposten entdeckt zu werden, sprang er eine Mauer hinunter und brach sich beide Beine und den rechten Arm.
Er schleppte sich nach Hause, wo er zuerst notdürftig versorgt wurde. Eine Woche später wurde er vom Ministerium für Staatssicherheit verhaftet und in das Untersuchungsgefängnis nach Berlin-Pankow gebracht. In seiner Stasi-Akte konnte Richter später nachlesen, dass Erich Mielke persönlich angeordnet hatte, ihm die medizinisch notwendige Versorgung zu verwehren.
15 Operationen
Anschaulich beschreibt er seine Qualen, als man ihm die Gipsverbände nicht abgenommen hat. Zu acht Monaten verurteilt, kam er nach sechs Monaten wegen seines schlechten Gesundheitszustands vorzeitig frei, danach verbrachte er 18 Monate in Behandlung in der Berliner Charité und musste 15 Operationen über sich ergehen lassen. Aus seiner Abneigung gegen die sächsische Sprache macht er keinen Hehl, „weil alle Stasis so gesprochen haben und wir Berliner Jungs keine Sachsen mögen!“
Im Jahr 1975 stellte Richter einen Ausreiseantrag und durfte schließlich mit Frau und Tochter die DDR verlassen. Seine Einreisesperre in seine Heimat endete erst mit der Wiedervereinigung. Aus Angst, entführt zu werden, lebte Richter lange Zeit im Ausland und kehrte erst 2004 nach Berlin zurück. Seit 2008 führt er Besuchergruppen durch die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Seine Ehefrau hat dem Druck nicht standhalten können und lebt seiner Aussage nach in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung. Seine Tochter hat seit 14 Jahren jeglichen Kontakt mit ihm abgebrochen. Die Gräfenberger Jugendlichen sind sichtlich berührt von Richters Geschichte. Es dauert eine ganze Weile, bis erste zaghafte Wortmeldungen und Fragen aufkommen. „Kalle“ Richter antwortet unprätentiös, wirkt gelassen und authentisch.
Besonders die Gründe, weshalb seine Tochter den Kontakt mit ihm abbrach, interessieren die vorwiegend weiblichen Jugendlichen. Aber darauf kann Richter keine befriedigenden Antworten geben. Erst als er erzählt, einen nach Österreich emigrierten Stasi-Informanten wiederholt unter psychischen Druck gesetzt zu haben, kommt aus dem Auditorium die Frage nach Selbstjustiz – ein Vorwurf, den er weit von sich weist. Zum Ende appelliert Richter an die Jugendlichen, sich gegen jegliche Versuche, die Rechtsstaatlichkeit einzuschränken, zur Wehr zu setzen.
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