Anne Bertoins alptraumhafte Zerreißproben im Art-Room

7.4.2015, 10:30 Uhr
Anne Bertoins alptraumhafte Zerreißproben im Art-Room

© F.: Linke

Das Feuilleton lechzt nach neuen Wortschöpfungen, die enorm geistreich klingen. Und die Künstler nicht minder. „Disruptive Szenarien“, das klingt doch toll. Aber was heißt das, zerrissene Szenarien? Das Englisch-Wörterbuch sagt: „Szenarien, die kurz vor der Spaltung stehen.“ Also auf gut Deutsch: Zerreißprobe.

Wie jeder Künstler auch befragt die Malerin Anne Bertoin, Jahrgang 1963, die aus Lyon stammt, in Paris studiert und einige Zeit in Kanada verbracht hat, sich im Selbstportrait. Ein halbes Dutzend Arbeiten im selben Format zeigen ihr Gesicht frontal oder im Dreiviertelprofil, meist unbewegt, mit fragendem Ausdruck. Ihr Mund wirkt energisch, die Augen mustern kritisch den Betrachter - oder sich selbst.

Doch darauf achtet der Betrachter nicht. Sondern auf die vielen Punkte in Orange, Rot oder Schwarz, die die Portraits verunstalten. Dabei handelt es sich um eine gezielte Verunstaltung. Die Punkte wirken wie Einschusslöcher oder wie runde Klebstellen, mit denen die Treffer auf Zielscheiben abgedeckt werden. Und sie konzentrieren sich um die Augen und um den Mund der Dargestellten. So, als hätte jemand das Bild zur Zielscheibe erkoren. Oder aber, als wären dies genau die Stellen, an denen die Blicke zuerst auftreffen.

Gleichzeitig empfindet der Betrachter sich in seinem Studium des Gesichts massiv behindert. Denn hierbei handelt es sich ja nicht um beschädigte, sondern um teilweise übermalte Portraits. Will er das Gesicht in seiner Gesamtheit rekonstruieren, so muss er ständig zwischen drei Bildern hin und her wechseln.

Teufel der Stadien

Ganz anders die großformatigen Gemälde. Der „Diable des Stades“ gibt erst nach längerem Hinsehen sein Geheimnis preis. Eine männliche Gestalt überschreitet eine Barriere, ihr schemenhafter Kopf und Oberkörper neigen sich vornüber, doch vor allem die Arme greifen zangenartig und anatomisch nicht mehr nachvollziehbar nach vorn. „Der Teufel der Stadien“ hält Einzug. Massenpanik? Furor der Hooligans? Von Menschen ist nichts zu sehen. Im Grunde entspricht die Bildidee dem Symbolismus der Jahrhundertwende, wie sie ein Franz Stuck gepflegt hat.

Indes setzt Anne Bertoin ihre Malerei derart vieldeutig und diffus-abstrakt ein, dass sich das Auge nur gerade noch an Konturen und anatomisch vertrauten Konstruktionen festzuhalten vermag. Genauso ist es mit dem „Aurochs“, einem Tier, dessen Massivität sich durch die Dunkelheit des Unterholzes ins scheinbar Unendliche erstreckt. Höhepunkt von Bertoins Malerei ist allerdings „Galériens“. Zuerst meint man, das Innere eines riesigen zerstörten Stadionovals bei Nacht zu bestaunen. Doch in welche Räume führt dann das helle Rechteck am Himmel? Am Boden verlaufen schemenhafte Striche auf einen Fluchtpunkt zu. Sind dies Gleise? Ist dies ein verschütteter U-Bahnhof?

Doch „Galériens“ bedeutet „Galeerensklaven“. Jetzt fällt der Groschen. Die „Stadionwände“ stellen zwei Galeeren auf Kollisionskurs dar, die Diagonalen sind Ruder, das helle Rechteck die Schiffsluke. Man befindet sich im Bauch der Galeere, genauer: in den Alpträumen der Rudersklaven, die der unerbittliche Takt des Ruderschlags bis in den Schlaf verfolgt. Ein Alptraumbild erster Güte.

„Disruptive Scenarios“: Art-Room-Galerie am Bahnhof (Gebhardtstraße 2), Tel. 97 61 74 80, donnerstags 17-22, freitags 15-19, samstags 14-18 Uhr. Bis 30. Mai.

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