Experte: Übergewicht raubt viel Arbeitskraft
1.5.2017, 08:00 UhrÜbergewicht ist allgegenwärtig. "Das kann man sehen, wenn man durch die Fußgängerzone läuft", sagt Professor Thomas Horbach. Nach einem OECD-Bericht von 2014 sind in Deutschland 16 Prozent der Bevölkerung adipös, haben also einen Body-Mass-Index (BMI) von 30 und höher (Er errechnet sich, indem das Gewicht in Kilogramm durch die Größe in Zentimetern im Quadrat geteilt wird). In Großbritannien ist bereits jeder Vierte betroffen, in den USA fast jeder Dritte.
"Da bricht der Wirtschaft viel Arbeitskraft weg", zitiert der Adipositas-Experte Studien. Mitunter könnten adipöse Menschen nicht mehr berufstätig sein, weil ihr Arbeitgeber keine entsprechenden Arbeitsgeräte, etwa Fahrzeuge, für sie vorhält oder sie chronische Krankheiten wie Diabetes und Bluthochdruck außer Gefecht setzen. Andererseits würden fettleibige Menschen oft versteckt bei Stellenbesetzungen diskriminiert und seien etwa seltener in Führungspositionen zu finden. "Es gibt das Klischee, dass dicke Menschen faul, weniger leistungsfähig und häufiger krank sind", erklärt Horbach und resümiert: "Die Gesundheitssysteme tragen die Last der Übergewichtsepidemie."
Lebenserwartung der Neugeborenen sinkt
Besonders besorgniserregend findet er, dass trotz allen medizinischen Fortschritts in Großbritannien heute die Lebenserwartung neugeborener Kinder unter der von Erwachsenen liege. Ein Grund dafür: das verbreitete Übergewicht. Für dieses wiederum sind die Ursachen vielfältig. "Es gibt eine gewisse Ernährungsprogrammierung", berichtet der Chefarzt. So sei bei einem übergewichtigen Elternteil die Chance, dass auch das Kind übergewichtig wird, 50 Prozent. Bei zwei übergewichtigen Elternteilen betrage die Wahrscheinlichkeit bereits 75 Prozent.
Das liege aber nur in den seltensten Fällen an einer krankhaften Veranlagung, wie einer Fehlfunktion der Hirnanhangsdrüse, sondern meist an einer Prägung, die schon im Mutterleib beginne. So gewöhnten sich Embryonen bei übergewichtigen Müttern an einen permanent hohen Blutzuckerspiegel und versuchten, diesen Zustand oft auch in ihrem späteren Leben durch viel Essen zu erreichen.
Lebensmittelindustrie spielt eine Rolle
Hinzu komme weniger körperliche Arbeit und weniger Fortbewegung, weil viele Menschen kaum mehr zu Fuß, sondern vor allem mit dem Auto oder öffentlichem Nahverkehr unterwegs sind. Auch die Lebensmittelindustrie, die häufig auf billige Produktionskosten setze, spiele eine Rolle, erläutert der Mediziner, der mit dem Vorurteil aufräumt, dicke Menschen bräuchten ja bloß weniger zu essen, und stattdessen betont: "Fettleibigkeit ist in erster Linie erworben, aber nicht durch Haltlosigkeit."
Mehrere Hundert Patienten sehen Horbach und sein 16-köpfiges Team im Adipositaszentrum der Schön-Klinik jedes Jahr. 180 Patienten wurden vergangenes Jahr mit invasiven Maßnahmen behandelt, von denen Magenbypass, -band, -ballon und Magenschlauchbildung die bekanntesten sind. Die Fallpauschale für einen solchen Eingriff liege bei zirka 8000 Euro. "Das erscheint nicht exorbitant im Vergleich zu den Kosten, die diese Patienten sonst den Gesundheitssystemen verursachen, etwa durch ihre chronischen Krankheiten", konstatiert der Leiter des Adipositaszentrums und unterstreicht: "Wir operieren die Menschen nicht von der Straße weg." Vielmehr gebe es vor jedem Eingriff eine Analyse, in der die individuelle Situation des Patienten umfassend beleuchtet wird.
Patienten leiden psychisch
"Unsere Patienten haben alle gemein, dass sie einen Punkt erreicht haben, an dem sie an dem Übergewicht nicht mehr nur physisch, sondern auch psychisch leiden", berichtet Horbach. Als bekanntes Beispiel nennt er den Trommler der "Altneihauser Feierwehrkapell’n", Reinhard Stummreiter, der mit 37 Jahren fast 300 Kilogramm auf die Waage gebracht hat. Norbert Neugirg, der Chef der Oberpfälzer Spaß-Band, der Stummreiter einst entdeckt hatte, setzte seinem Kollegen ein Ultimatum: Entweder er nehme ab oder er fliege raus. Der Trommler war zuerst wütend, realisierte dann aber, dass er etwas ändern musste.
Nach einer Magenoperation im Sommer 2012 nahm er binnen eineinhalb Jahren 150 Kilogramm ab. Auch Stefanie Klein aus Fürth hat ihr Volumen nach einer Magen-OP fast halbiert: von einem Höchstgewicht von 153,6 Kilogramm auf jetzt 88. "Ich habe mich abgeschottet und eine Mauer um mich herum aufgebaut", blickt die Druckermeisterin auf ihre übergewichtige Kindheit, Jugend und junge Erwachsenenzeit zurück.
Ein Teufelskreis
"Ich habe fast mein ganzes Leben nichts anderes gemacht, als versucht, abzunehmen", erinnert sich die 35-Jährige und bilanziert trocken: "Am Wissen, dass ich zu viele Kalorien zu mir nehme und mich mehr bewegen müsste, hat es nicht gemangelt. Und ich glaube, das ist bei jedem Übergewichtigen so." Verschiedene Diäten, zwei Abnehmkuren und drei Jahre Verhaltenstherapie hätten kurzfristig mitunter auch zu einer Gewichtsreduktion geführt, berichtet Klein.
"Aber wenn ich 20 Kilo abgenommen und drei wieder zugenommen hatte, war alles wieder dahin", schildert die Unternehmerin einen Teufelskreis. Leicht fiel ihr die Entscheidung für eine Operation als letzten Ausweg trotzdem nicht: "Ich habe wirklich Angst gehabt vor einem Leben danach." Gleichgesinnte traf Klein erstmals in der Selbsthilfegruppe (SHG) Adipositas Fürth, zu der sie im November 2014 stieß und die sie inzwischen mitleitet.
Ohne die Operation, die die Aufnahmekapazität ihres Magens auf 150 Milliliter begrenzt, wäre sie immer noch stark adipös, glaubt Klein und sagt: "Man braucht so viel Biss, Durchhaltevermögen in allen Lebenslagen." Dabei muss sie sich auch jetzt disziplinieren, um ihr Gewicht zu halten oder gar weiter abzunehmen, und gesunde Kost bevorzugen, Nahrungsergänzungsmittel einnehmen, sich viel bewegen und zu regelmäßigen Kontrollen gehen.
Frauen leiden häufiger
Im internationalen Vergleich gibt es in Deutschland mit rund zwölf Eingriffen pro 100 000 erwachsene Einwohner eher wenig bariatrische Operationen. "In dieser Hinsicht ist Deutschland ein Entwicklungsland", schimpft Horbach. Dabei würden die Operationen den meisten Patienten nicht nur helfen, ihr Gewicht zu reduzieren, sondern auch ihren Glukosestoffwechsel, ihren Blutdruck und andere Parameter positiv beeinflussen. Oft verschwinde sogar eine Diabetes-Erkrankung wieder.
Schuld an der Zurückhaltung seien die Krankenkassen, die wohl eine Kostenexplosion fürchteten, wenn verstärkt übergewichtige Menschen operiert würden, und der von den gesetzlichen Kassen mit Einzelfallprüfungen beauftragte Medizinische Dienst (MDK). Immer wieder lese er in dessen Gutachten, die Patienten hätten noch nicht alle konservativen Möglichkeiten ausgeschöpft, sagt Horbach. Bei einem BMI von 53 sei aber zum Beispiel sportliche Betätigung meist gar nicht mehr möglich.
"Natürlich fordern wir nicht, dass jemand schwimmen geht, der nicht schwimmen kann", hält der stellvertretende Geschäftsführer des MDK Bayern, Max Peter Waser, dagegen. "Es wäre aber auch unseriös, jeden Übergewichtigen zum Operieren zu schicken." Schließlich seien bariatrische Operationen noch relativ neue Eingriffe, ihre mittel- bis langfristigen Wirkungen daher noch gar nicht absehbar. Auch gebe es Hinweise, dass bei bestimmten psychischen Erkrankungen eine Operation sogar kontraproduktiv sein kann.
Laut des Registers "Bariatrische Chirurgie" mit Daten von mittlerweile mehr als 45 000 Patienten haben sich seit dessen Einführung im Jahr 2005 in Deutschland mit fast 72 Prozent signifikant mehr Frauen als Männern einem solchen Eingriff unterzogen - obwohl Adipositas in der Bevölkerung in etwa gleich verteilt ist. "Männer haben aber deutlich weniger Leidensdruck als Frauen", erklärt Horbach und betont: "Das sind keine kosmetischen Operationen. Sondern diese Menschen sind krank und schaffen ab einem gewissen Punkt ihren Alltag nicht mehr, also etwa ihre Kinder zu betreuen oder arbeiten zu gehen."
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