Fürth: Inklusion nützt allen
2.5.2016, 21:00 UhrWie lebt es sich unter beeinträchtigten Bedingungen? Machen wir die Probe aufs Exempel. In der ersten Prüfung soll man mit verschlossenen Augen Obst und Gemüse per Zunge identifizieren. Gurke und Karotte sind einfach. Schwieriger wird es schon bei der nächsten Kostprobe. Das könnte Kohlrabi sein? Ist es auch. Doch was ist das? Zart und süß, das ist eine Melone. „Nein“, winkt Birgit Kögler vom Behindertenrat ab. Na gut, dann eben Honigmelone. „Immer noch nicht.“ Ja was denn? „Ein Apfel.“
Nächster Versuch. Wie findet sich ein Sehbehinderter mit Makula-Degeneration zurecht? Eine Spezialbrille versetzt den Probanden in den Tunnelblick. Der Proband blickt geradeaus und erkennt links nur noch einen Container, und auf dem rechten Auge ein Stück Fassade der Neuen Mitte. Senkt er den Kopf, erkennt er Birgit Köglers Hinterkopf. Gleich links daneben müsste seine Hand auf ihrer Schulter ruhen. Nur sieht er seine Hand nicht, sondern spürt allein die Berührung.
Birgit Kögler geht voran, der Proband hinterdrein. Dabei erkennt er nur Dinge, die in der Mitte seines Gesichtsfelds liegen, etwa auf Horizontlinie. Was sich davor oder links und rechts davon abspielt, entgeht seiner Wahrnehmung. Jetzt ist blindes Vertrauen in die Führerin gefragt.
Dritter Versuch: Eine Probefahrt im Rollstuhl. Die Querung der Straße verläuft noch einwandfrei, doch wie kommen wir jetzt auf den Gehsteig? Die Bordsteinkante ist zwar niedrig, widersetzt sich jedoch der frontalen Attacke. Vielleicht Anlauf nehmen? Autsch, beinahe aus dem Rollstuhl gekippt. Sich nach hinten zurückwerfen und die Vorderräder in die Luft stemmen — das klappt auch nicht. „Versuchen Sie es einmal mit einer schrägen Anfahrt“, rät Birgit Kögler — ein Tipp, der zum Erfolg führt.
Danach rüber zum Pflaster in der Adenaueranlage — das ruckelt und rüttelt und schüttelt. „Und jetzt verirren Sie sich ins Gras“, weist Birgit Köhler den weiteren Weg. Reinkommen ist leicht, rauskommen schwer — unter Aufbietung aller Armkraft. Wie schön ist es, wieder auf zwei Beinen zu stehen. „Ja, das habe ich mir auch gedacht, als ich nach einem halben Jahr wieder aus dem Rollstuhl raus durfte“, verrät Birgit Kögler. So lange brauchte ihr gebrochener Fuß zum Verheilen. Und seitdem hat sie „einen Mordsrespekt“ vor Rollstuhlfahrern.
Breit gestreuter Appell
Wem gilt eigentlich der Protest der Behinderten? „Er richtet sich an alle Menschen, ob mit oder ohne Behinderung“, erklärt die Diplom-Sozialpädagogin Gerlinde Lechner-Beierlein, die bei der Fürther Arbeiterwohlfahrt die Leitung des betreuten Wohnens für psychisch kranke Menschen verantwortet. Dort geht der Trend weg von der Wohngemeinschaft und hin zur ambulant betreuten Unterbringung in Einzelappartements. Dort finden die Betroffenen Ruhe und Rückzugsraum, um den Stress der Bewältigung des täglichen Lebens zu kompensieren.
Zehn Minuten lang den Verlust eines Sinnes oder seiner Mobilität auszuprobieren, ist vergleichsweise einfach. Wie aber soll man sich eine Depression vorstellen? Oder zwanghaftes Denken, dem nur mit einer rituellen Handlung beizukommen ist? Manche Menschen etwa können erst dann am Schreibtisch loslegen, wenn sämtliche Stifte der Größe nach aufgereiht wie Orgelpfeifen im 90-Grad-Winkel zur Tischkante liegen.
Das suggeriert Ordnung und Sicherheit. Die Reihenfolge der Stifte zu ignorieren, bringt gar nichts, wissen Experten. „Man muss nach der Unruhe forschen, die hinter dieser Sucht nach Ordnung steckt“, erklärt Gerlinde Lechner-Beierlein.
Beim Stand des Bayerischen Roten Kreuzes (BRK) geht es um Barrierefreiheit: zehn Fragen mit je vier möglichen Antworten. Doch wie lautet die allgemein akzeptierte Bezeichnung für einen Menschen, der eine Behinderung hat? Invalider? Nein, denn Valid bedeutet Wert, „invalid“ wäre also „wertlos“. Das geht gar nicht. Gehandicapter? Handicaps gehören auf den Golfplatz. Behinderter? Naheliegend, aber falsch. „Mensch mit Behinderung“ ist richtig.
Ohne Konflikte
Die Inklusion, die das problem- und konfliktlose Zusammenleben aller erreichen möchte, steht als Ziel am Horizont des Protesttags. Anders als der alte Begriff „Integration“, der das Sicheinfügen der Menschen mit Behinderung in die Welt der Nichtbehinderten definiere, bedeute Inklusion: „Menschen mit und ohne Behinderung werden gleichermaßen behandelt und in gleicher Weise von den Errungenschaften der Inklusion profitieren“, sagt Hildegard Werling vom BRK.
Ein barrierefreies Kaufhaus etwa ermöglicht nicht nur Rollstuhlfahrern freien Zugang, sondern auch älteren Menschen, Familien mit kleinen Kindern und solchen, die mit ihrem Wochenendeinkauf schwer beladen sind.
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