IS-Terror: Kurdin kämpfte in der Hölle von Kobane

18.10.2015, 16:00 Uhr
IS-Terror: Kurdin kämpfte in der Hölle von Kobane

© Foto: AFP

Als Habib Ghamins E-Mail die Redaktion erreichte, mischten sich in die erste Überraschung leise Zweifel. Im Zirndorfer Auffanglager (ZAE) für Flüchtlinge sei eine Kurdin, die gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) gekämpft hat, schrieb uns der Arzt aus Burgfarrnbach, jetzt wolle sie einen Redakteur treffen. Wie glaubwürdig ist die Frau? Sehr glaubwürdig, antwortete Ghamin, der seit Jahren in der ZAE behandelt. Ihre Verletzungen, so der erfahrene Mediziner, seien typisch für den Kampf.

Kurden leben vor allem in Syrien, Iran, Irak und der Türkei. Es ist ein Volk ohne eigenen Staat, aber mit einer langen Geschichte. Den Terroristen des IS leisten sie erbitterten Widerstand. Im Irak sind es vor allem die „Peschmerga“, in Nordsyrien die kurdischen Volksschutzeinheiten. In beiden Truppen kämpfen viele Frauen.

Man sieht es auf den ersten Blick nicht, aber Khonaw Musslim war eine von ihnen. Zum Besuch in der FN- Redaktion hat sie sich die dunklen Haare gestylt und die Fingernägel lackiert, sie trägt Ringe und am Handgelenk ein Kettchen, Kajal umrahmt dunkel ihre Augen. Begleitet wird sie von ihrem Lebensgefährten und von einem Dolmetscher.

Khonaw Musslim legt einen Stapel Fotos auf den Tisch. Die Bilder zeigen sie in olivfarbener, dunkler Kleidung. Ungeschminkt. Ringe oder Kettchen trägt sie nicht, dafür eine Kalaschnikow oder ein schweres Maschinengewehr über der Schulter. Mal ist sie allein zu sehen, mal mit Frauen und Männern ihrer Einheit.

Auf einem Bild liegt ein staubbedeckter Mann mit verdrehten Gliedmaßen auf dem Boden. „Daesh“, sagt Khonaw Musslim. So nennen Kurden und Araber die Kämpfer des IS. Khonaw Musslim hat gegen diese Männer gekämpft. Warum? „Ich wollte mein Land verteidigen“, lässt sie Dolmetscher Arian Kurdistani übersetzen.

Ihre Geschichte erzählt sie schnell, fast atemlos, mit vielen Gesten, aber sehr gefasst. Ihr Gesicht bleibt meist unbewegt, dann und wann zeigt sie ein leichtes Lächeln, an manchen Stellen atmet sie tief durch.

IS-Terror: Kurdin kämpfte in der Hölle von Kobane

© Foto: privat

Khonaw Musslim kam vor 25 Jahren in Kobane zur Welt, an einem 12. September. Als 2011 der Bürgerkrieg in Syrien ausbricht, lebt sie in Raqqa im Norden des Landes. Sie flüchtet zu Verwandten in die Türkei. Im Spätsommer 2014 rücken die Dschihadisten des IS auf Musslims Geburtsstadt Kobane vor, die an der Grenze von Syrien zur Türkei liegt. Khonaw Musslim will nicht länger zusehen. Gemeinsam mit weiteren Frauen schließt sie sich einer kurdischen Einheit an. Innerhalb von neun Tagen lernen sie, wie man schießt und wie sie das Gewehr auseinander- und wieder zusammenbauen. „Mehr Zeit blieb uns nicht“, sagt sie.

Es ist ihr Geburtstag, der 12. September 2014, als sie nach Kobane zurückkehrt. Kurz darauf beginnen die Gefechte. Zunächst erobern die Dschihadisten die Dörfer rund um Kobane, dann fallen sie in der Stadt ein. Es entbrennt ein monatelanger Häuserkampf. Die Welt nimmt Anteil an der Abwehrschlacht der Kurden. Die USA und arabische Verbündete fliegen Luftangriffe gegen den IS. Ende Oktober kommen die ersten Peschmerga aus dem Irak nach Kobane, um ihren kurdischen Landsleuten in Syrien gegen die gut ausgerüsteten IS-Kämpfer zu helfen.

„Sie hatten bessere Waffen, trotzdem waren wir stärker“, sagt Khonaw Musslim mit ernster Miene. „Wir haben mit Herz gekämpft.“ Manchmal habe sie tage- und nächtelang nicht schlafen können. Von den 45 Kämpfern ihrer Einheit überleben nur fünf. „Aber die haben viele Feinde umgebracht.“ Hat sie selbst auch getötet? „Sicher“, übersetzt der Dolmetscher. „Nicht nur einen.“

Die Frauen der Einheit schwören, sich eher mit einer Handgranate in die Luft zu sprengen, als den IS-Terroristen in die Hände zu fallen. „Sie sind schrecklich, sie töten alles, was ihnen im Kampf begegnet“, sagt Khonaw Musslim. Auch Alte, Frauen und Kinder. „Aber vor allem gegenüber Frauen verhalten sie sich wie Tiere.“ Mit dem Islam habe das alles nichts zu tun.

Im Februar 2015 gilt Kobane als befreit, der IS zieht sich aus der schwer zerstörten Stadt zurück. Khonaw Musslim bleibt, denn der Feind ist nach wie vor nicht weit.

Im Juni flammen die Kämpfe bei Kobane erneut auf. Die junge Kurdin erhebt schwere Vorwürfe gegen die Türkei. IS-Kämpfer seien über die türkische Grenze in den Rücken der Verteidiger gelangt. Zudem hätten die Kurden mit Ferngläsern beobachtet, wie sich türkische Militärs mit dem IS getroffen hätten und dabei Lkw-Ladungen voller Waffen den Besitzer wechselten.

Mitte Juni rücken die Kurden auf Tal Abyad vor, der Ort liegt 60 Kilometer südöstlich von Kobane. An einem Feld gerät Khonaw Musslims Trupp in einen Hinterhalt. Die Kurden bringen ihre Verwundeten in ein Dorf. Die junge Frau bezieht mit ihrem schweren Maschinengewehr auf einem Hausdach Stellung. In der Nacht tut sie einmal mehr kein Auge zu.

In der Morgendämmerung tauchen Männer auf. Erst als sie das Feuer eröffnen, wird klar, dass sie nicht — wie zuerst vermutet — Dorfbewohner sind. Die Kurden erwidern den Beschuss. Khonaw Musslim verbraucht drei Munitionsketten. Die Waffe wird so heiß, dass sie kaum noch zu halten ist. Dann durchschlägt eine Kugel ihr linkes Bein, eine weitere die rechte Schulter. Herbeigerufene Einheiten vertreiben den Feind.

Khonaw Musslim verliert viel Blut, in Kobane wird sie provisorisch behandelt und dann über die Grenze in ein türkisches Krankenhaus gebracht. Sie muss dreimal operiert werden, die Kugeln haben Knochen zersplittert.

Die Gleichmütigkeit, mit der die Kurdin erzählt und ihre gut 20 Zentimeter lange Narbe auf dem Oberarm zeigt, ist bisweilen irritierend. „Sie fühlt sich als Kämpferin“, glaubt der Dolmetscher, dem das ebenfalls auffällt, „sie will keine Schwäche zeigen.“ Nur wer tiefer blicke, sehe, wie verwundet sie in Wirklichkeit sei. Ihr Lebensgefährte, nach dessen Hand die junge Frau immer wieder greift, sagt, sie schrecke nachts im Schlaf hoch. Sie brauche eine Therapie in Deutschland.

Die Türkei verlässt Khonaw Musslim, nachdem Ende Juli die Gewalt zwischen der türkischen Staatsmacht und der kurdischen Untergrundorganisation PKK eskaliert ist. Die junge Kurdin fühlt sich nicht mehr sicher, zudem misstraut sie den Ärzten im Krankenhaus. Sie hat starke Schmerzen und will nach Deutschland: Weil sie gehört hat, dass es ein demokratisches Land sei, in dem man medizinisch gut versorgt werde.

Operation in Nürnberg

Auf dem Weg schließt sie sich Landsleuten an, denn Kurden, sagt sie, halten zusammen. Den Bosporus überqueren sie in einem Schlauchboot. Über Griechenland und den Balkan geht es nach Österreich. Ein Zug bringt sie von Salzburg nach München, wo sie an ihrem Geburtstag, dem 12. September 2015 ankommt. Ein kurdischer Bekannter aus dem Großraum Nürnberg, ihr jetziger Lebensgefährte, holt sie mit dem Auto ab.

In diesen Tagen hat Khonaw Musslim einen OP-Termin in einer Nürnberger Klinik, damit die Schmerzen dauerhaft vergehen. Ihren Kampf gegen den IS bereut sie trotz der erlittenen Wunden nicht. Im Gegenteil. Sie hofft, dass andere Kurden ihrem Beispiel folgen.

Sie selbst steht an der Schwelle eines neuen Lebens. In Deutschland. In Sicherheit. Sie will die Sprache lernen und arbeiten. Was, das wisse sie noch nicht, eine Ausbildung hat sie nicht. Und was wird Khonaw Musslim im nächsten Jahr am 12. September tun, der so etwas wie ihr Schicksalstag ist? Dann, sagt sie, möchte sie Mutter einer Tochter werden. „Mutter einer Kämpferin.“

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