„Man wollte leben“

27.9.2010, 07:00 Uhr
„Man wollte leben“

© Sabine Rempe

Für einen kurzen Augenblick hat die Situation etwas Surreales: Da sitzen zwei junge Männer im Gespräch mit einem sehr freundlichen, zuvorkommenden älteren Herrn, der aufmerksam zuhört und jede ihrer Fragen sorgfältig beantwortet. Vor den Fenstern des Schulzimmers scheint die Septembersonne, vom Hof des Gymnasiums hört man Kinderstimmen. Ein friedliches Bild, scheint es. Allein, was der Besucher erzählt, ist von unbeschreiblicher Grausamkeit.

14 Jahre alt war Bogdan Debowski, als er von den Nationalsozialisten aus Polen verschleppt wurde, weil er zu einer Pfadfinderorganisation gehörte. Der Junge wurde in die Konzentrationslager Flossenbürg und Dachau deportiert, die letzten sechs Kriegsmonate erlitt er in Langenzenn in dem Lager, das den zynischen Namen „Arbeitserziehungslager“ trug. Jetzt ist der Mann aus Warschau mit vier weiteren Zeitzeugen für vier Tage zu Besuch in Langenzenn (die FN berichteten).

Mit Grauen denkt der 82-Jährige an den Beginn seiner schrecklichen Odyssee in Nürnberg: „Jeder, der hier ankam, wurde fünfzig Mal mit einem Stock geschlagen – da habe ich zum ersten Mal Menschen gesehen, denen das Fleisch vom Knochen hing.“ Er erinnere sich, sagt Debowski, dass die Schläger sehr oft Ukrainer gewesen seien: „Das waren damals große, stämmige Männer, die Menschen ohne Grenzen misshandelten.“ Der 14-Jährige sollte die Hiebe laut mitzählen, irgendwann fiel er in Ohnmacht. Da seien die Peiniger weitergegangen, berichtet Bogdan Debowski und fügt nüchtern hin, da habe er wahrscheinlich Glück gehabt.

Unter dem Lkw-Verdeck

Ein Begriff, der nicht im geringsten dazu passen will, was sich in sein Gedächtnis eingebrannt hat. Nach Langenzenn, sagt er, sei er im Winter gekommen. Zu diesem Zeitpunkt habe er schon nicht mehr gewusst, welcher Wochentag, geschweige denn, welches Datum gerade aktuell gewesen sein. Zurückhaltend erkundigen sich die beiden Schüler Markus Zapf (18) und Patrick Bauer (17) aus der Q12, die mit Geschichts- und Deutschlehrerin Rita Perschke-Leis das Langzeitprojekt Zeitzeugen-Befragung in Angriff genommen hat, ob es denn Hilfe aus der Langenzenner Bevölkerung für die gequälten Menschen im Lager gab? „Wir haben nie einen Menschen gesehen, nicht einmal ein Haus“, sagt Debowski. Im abgedeckten Lkw sei man zur Arbeit gefahren worden. Auch untereinander habe es zwischen den Gefangenen keinen Kontakt gegeben. Unvorhersehbare, grundlose Schläge waren dagegen an der Tagesordnung, ebenso wie Hunger. Pro Tag gab es eine Scheibe Brot und einen Teller Zuckerrübensuppe. „Ohne Salz, ohne Fett.“

Habe es Zeichen der Solidarität zwischen den Gefangenen gegeben, wollen die Schüler wissen. Dazu sei kaum Gelegenheit gewesen, lautet die Antwort. Die Menschen, die nicht mehr beim Namen genannt wurden, sondern nur noch nach Nummern aufgerufen wurden, seien bloß mit dem Moment beschäftigt gewesen: „Das Denken verändert sich. Man wollte doch leben...“

Einer weiteren Gruppe berichtete zeitgleich auch Stanislawa Martyn (86) davon, was sie zwischen Februar und April 1945 im Langenzenner Lager erleben musste. In ihrer Erinnerung wurden zu diesem Zeitpunkt wesentlich mehr Gefangene dort festgehalten, als gemeinhin angenommen. Stanislawa Martyn bezifferte die Zahl der Inhaftierten mit rund 600 Männer und etwa 250 Frauen.

Bevor die Schülerinnen und Schüler die Besucher befragten, hatte Direktor Reinhard Vollmer die Gäste begrüßt und noch einmal klar gemacht, wie wichtig diese Gespräche sind: „So ist es noch einmal möglich, Geschichte für die junge Generation nachdrücklich und authentisch begreifbar zu machen.“