Strampelnder Vogel und der Lockruf des Regenbogens

3.10.2013, 10:00 Uhr
Strampelnder Vogel und der Lockruf des Regenbogens

© Thomas Scherer

Strampelnder Vogel könnte zu Fuß gehen. Gegen Flugangst und Magenbeschwerden hilft die Apotheke schräg gegenüber. Auch wer sich, nur so als Beispiel, den Wolf gesessen hat, der kehrt dort ein. Hier aber, Schauplatz Königstraße, erinnert das nachgemalte Filmplakat über der Western-Eisenbahn an einen der größten Hollywood-Kassenschlager. Der Fahrgeschäftmaler — so heißt dieses Business wohl — hat sich an „Der mit dem Wolf tanzt“ versucht. Die kleinen Eisenbahner ahnen nichts. Große Filmfans aber könnten bei der Bildbetrachtung zu dem Schluss kommen, Kevin Costner habe soeben einem tollwütigen Kojoten das Abendbrot geklaut. Und neben ihm, das soll Graham Greene sein, Häuptling Strampelnder Vogel. Strampelnder Vogel hat sehr miesen Tag.

„Dunkel wie Asien“

Strampelnder Vogel und der Lockruf des Regenbogens

Doch nach Kunst auf der Kärwa Ausschau zu halten, ist sinnloser, als Zebras auf dem Mond zu finden. Die Kärwa selbst ist das Kunstwerk, Jahr für Jahr betrachtet man es liebevoll, ohne dass auch nur einmal die innere Stimme befiehlt: „Nichts wie weg!“ Auf der Wiesn war und ist das anders. US-Autor Thomas Wolfe etwa, der Ende der zwanziger Jahre München besuchte, schrieb von „Menschenhorden, in denen etwas Unheimliches waberte, etwas, so seltsam und dunkel wie Asien“. Was die Michaelis-Kärwa nicht ist? Ausschweifend und kräftezehrend. Bierkampfzone und Brunftarena, schweißnasses „Hölle, Hölle“Drama und Tragikomödie berauschter Massen. Die Kärwa erobert man flanierend, heiter-gelassen, offenen Auges — und dann nahen sie eben doch, die irrwitzigen Kunst-Stückchen.

Aber nicht vergessen: Schausteller sind konservativ. Wenn sie in lyrische Wallung geraten, kommt nicht Benn heraus, sondern ein 1a-Reim. So war das schon vor 100 Jahren. Und 2013? „Einfach reinschrauben, das ist nicht schwer, schon ist die Zitrone leer“, wer hat’s gedrechselt? Der Zitronensaft-Fachmann aus der Moststraße. „An den Pferden erfolgreich geprobt, von den Menschen gelobt“ — Salbe aus der Breitscheidstraße. Wenige Meter weiter wagt sich ein Einreibe-Experte gar an einen Vierzeiler: „Wenn’s dich mal zwickt und reißt, du vor Schmerz nicht weiter weißt, schreie nicht o wei o wei, nimm Murmeltier, dann ist’s vorbei.“

Bei „Der Kräuterkraft dir Wohltat schafft“ ging allerdings der Artikel daneben, und warum eine karibisch inspirierte Losbude „Barberdos“ heißt, bleibt ein ungelöstes Rätsel. Wahre Kunst wagt halt was, und hier ist ausdrücklich der Pfannenstand in der Moststraße zu loben, der seine Quirle und Pfannenwender tollkühn in den Farben des Regenbogens drapiert hat — Fans der „edition suhrkamp“ selig müssten genau hier in helle Verzückung geraten. Stichwort Literatur: Die Kärwa-Ware mit den meisten Buchstaben liegt in der Nürnberger Straße aus. Eine „Biergartengaudiradidrehspitze“. Das toppt niemand.

Die holzgeschnitzten Elefantenherden unweit des Billigen Jakob auch nicht. Mama, Papa, Kinder im Zedernwald und in Wagenradgröße zum An-die-Wand-Hängen für 98 Euro. Die Afrika-Sammlung lässt sich bei Unserer Lieben Frau erweitern um Giraffen in drei Größen. Und das soll Kunst sein? Nein. Ein reueloses Vergnügen bereitet unterdessen unweit der Kleinen Freiheit der Stand mit Bunzlauer Keramik — Töpferhandwerk nach alter Väter Sitte mit einem Dekor, das schon vor Jahrzehnten stilbildend war. Zauberhaft.

Zurück zur Fahrgeschäftmalerei. Das Auge wird fast unentwegt beballert mit Farbexplosionen in Airbrush-Technik, aufgetragen auf Folien, die ein Computer zurechtgeschnitten hat. Schausteller, wie gesagt, sind konservativ, sie vergöttern Idole von ehemals. Die „Highway Rallye“ am Königsplatz zieren Stallone und Hasselhoff, an Losbuden kichert die Monroe, überm Tütenangeln thront einer, der verdächtig an Soul-Brummbär Barry White erinnert. Musikalisch aber geht mit Hits aus den Siebzigern gar nichts. An den Teenie-Schleudern „Der Burner“ und „Space Party“ regiert das Kawumm der aktuellen Charts, „Talk dirty to me“.

Wellenflug-Barock

Umso schöner, wenn wenigstens das Auge hin und wieder etwas Liebliches serviert bekommt — den pompösen Barock-Kitsch des „Wellenfluges“, den kecken Putto mitten im „Veteranen Club“ auf der Freiheit, die malerisch-prallen Sommersonnen-Fantasien des Hawaii-Früchtestandes, die urwüchsig-alpenländisch drapierte Wäscheleine am Alten Brathaus.

Sollte aber wahre Kunst ein alle Sinne rührender Ruf aus alten Zeiten sein, dann gebührt die Krone dem Kinderkarussell beim Schliemann-Gymnasium. Wie die Augen der Juniorchefin leuchten, als wir sie nach dem Alter des Gefährts befragen. 65 Jahre! Und dann schweift der Blick hoch zur pastellzarten Bemalung, auch die 65 Jahre alt. Kinder tanzen, lachen, spielen mit Reifen und Kreisel, spielen Fangen. Mehr nicht und doch so viel.

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