Demokratie
Zwei Wahlen, ein Ziel: Juniorwahl und U18-Wahl im Vergleich
22.9.2017, 16:00 UhrBeide stammen aus Berlin, beide wollen Minderjährigen etwas geben, was ihnen bisher verwehrt ist: Eine politische Stimme. Die U18-Wahl und die Juniorwahl sind zwei Projekte mit unterschiedlichen Ansätzen, aber dem gleichen Ziel. Wir haben Gerald Wolff, Projektleiter der Juniorwahl und Michael Scholl, Sprecher des Deutschen Bundesjugendrings erklären lassen, worum es bei den Initiativen geht und warum es gleich zwei davon gibt.
Wer steckt dahinter?
Die U18-Wahlen werden in Berlin vom U18-Netzwerk um Gründer Marcus Lehmann organisiert und getragen. Bundesweit beteiligen sich an der Durchführung das Deutsche Kinderhilfswerk, der Deutsche Bundesjugendring, die Landesjugendringe und verschiedene Jugendverbände. Für die Bundestagswahl 2017 förderte das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie die Bundeszentrale für Politische Bildung das Projekt.
Die Juniorwahl wird vom Berliner Verein Kumulus getragen. Er entstand 1998 aus einer Schulclique in Berlin-Reinickendorf, die etwas gegen Politikverdrossenheit und für politische Mitbestimmung bei Jugendlichen tun wollten.
Warum zwei Initiativen?
Das ist einer Mischung aus Zufall und unterschiedlichen Philosophien geschuldet. Die Idee zur U18-Wahl entstand 1996 in einem Jugendclub in Berlin-Mitte und kommt aus der offenen Jugendarbeit. Sie ist hauptsächlich für den außerschulischen Bereich konzipiert. Zwar stellen die Organisatoren auch Unterrichtsmaterial für Schulklassen oder Hilfe bei Veranstaltungen zur Verfügung. Das Angebot soll aber nicht auf Schulen begrenzt sein. "Die Idee, die hinter U18 steht, ist, vor einer Wahl politische Bildung zu machen, und zwar in einem Kontext, der nicht Schule ist", erklärt Michael Scholl vom Deutschen Bundesjugendring, welcher die U18-Wahl mitorganisiert.
In der Gründungsgeschichte der Juniorwahl spielen dagegen eine Talkshow und ein Vorbild aus den USA die entscheidende Rolle. Die Mitglieder des Kumulus e.V. orientierten sich bei ihrer Idee an der US-Initiative "Kids Voting", bei der Kinder und Jugendliche ihre Stimme zu den Präsidentschaftswahlen abgeben können. Der Politikprofessor Jürgen Falter hatte das Konzept in der Talkshow Sabine Christiansen vorgestellt. "Wenn ihr mit einem solchen Projekt jemanden erreichen wollt, reicht es nicht, zu wählen", erinnert sich Gerald Wolff, Projektleiter der Juniorwahl, an die Worte des Professors. Ein Programm für politische Bildung musste her. Die Initiatoren entschieden sich für ein Konzept, das ausschließlich für Schulen gedacht ist.
Wie unterscheiden sich die Konzepte?
- Ort: Die Juniorwahl findet ausschließlich an Schulen statt. Bei der U18-Wahl können die improvisierten Wahllokale quasi überall stehen - in Gemeinderäumen, Jugendclubs, Turnhallen, auch an Schulen. Auch in den Geschäftstellen unserer Zeitung fanden ebenfalls Wahlgänge statt (hier geht es zu den Ergebnissen für Fürth).
- Material: Wahlurnen, Stimmzettel, Wahlbenachrichtigung: Bei der Juniorwahl sieht alles aus wie bei der echten Bundestagswahl. Das Material stellen die Organisatoren zur Verfügung. Für die U18-Wahl ist Kreativität gefragt: Urnen oder Kabinen können selber gebastelt werden, die Stimmzettel-Vordrucke kann man herunterladen und ausdrucken. Allerdings ist auf dem Muster nur die Zweitstimme vorgedruckt. Die Kandidaten für die Erststimme können die Wahlleiter vor Ort per Hand eintragen, ansonsten wird nur die Zweitstimme vergeben.
- Altersbegrenzung: Bei der Juniorwahl dürfen nur Siebtklässler oder ältere Schüler abstimmen. Die U18-Wahl ist für alle offen. Auf dem Stimmzettel können die Teilnehmer freiwillig ihr Alter und ihr Geschlecht angeben. "Daher wissen wir, dass auch manche Achtjährige mitmachen", sagt Michael Scholl vom Bundesjugendring. Der Durchschnitt liege bei 14 oder 15 Jahren.
- Ablauf: Auch hier läuft die Juniorwahl streng nach den realen Vorschriften. Nur, wer seine Wahlbenachrichtigung und einen Personalausweis vorlegt, darf seine Kreuze setzen. Sie findet an mehreren Tagen statt. "Wir können den Schulen nicht vorschreiben, wann sie wählen sollen", erklärt Projektleiter Wolff, warum es nicht einen festgelegten Stichtag gibt. U18 ist offener angelegt: "Die Jugendlichen können einfach hingehen, einen Wahlzettel bekommen und wählen", sagt Scholl. Dafür gibt es ein festes Datum, nämlich neun Tage vor der Bundestagswahl.
- Ergebnisse: Die U18-Ergebnisse werden direkt nach der Abstimmung, also eine Woche vor der Bundestagswahl, veröffentlicht. Der Vorlauf ist bewusst gewählt, das Votum soll wahrgenommen werden. "Am Wahltag selbst interessiert das keinen mehr", begründet Scholl die Entscheidung. Die Ergebnisse der Juniorwahl gibt es dagegen am Tag der Bundestagswahl um 18 Uhr - genau wie die Prozentzahlen der echten Abstimmung.
- Pädagogisches Konzept: Bei der Juniorwahl sollen Jugendliche unter möglichst realitätsnahen Bedingungen ihre Stimme abgeben. "Simulationsansatz" nennt Projektleiter Gerald Wolff vom Kumulus-Verein das. Heißt: Wahlbenachrichtigung, Kontrolle des Personalausweises, abstimmen an der Wahlurne - das alles findet mit dem gleichen Material und in der gleichen Abfolge statt wie bei der echten Bundestagswahl. Vorher bekommen die Klassen in mehreren Unterrichtseinheiten Infos zum Wahlmodus, dem politischen System und den Folgen der Wahl. "Es gibt ein umfangreiches didaktisches Konzept", sagt Wolff. Die Idee: Die Lehrer sollen die Unterrichtsstunden halten, die Schüler den Wahlakt organisieren.
Bei der U18-Wahl stehen Mitmachen und Gestalten im Vordergrund, nicht das Nachahmen der Erwachsenenwelt. "Die U18-Wahl findet nicht für, sondern mit den Kindern und Jugendlichen statt", nennt Scholl den entscheidenden Unterschied. Wahlurnen oder -kabinen werden von den Organisatoren nicht zur Verfügung gestellt, sondern selbst gebastelt oder geliehen. Interessierte können entscheiden, ob und wenn ja mit welchen Parteien oder Politikern sie vorher ins Gespräch kommen wollen, ob sie Podiumsdiskussionen organisieren möchten oder Info-Veranstaltungen besuchen.
- Teilnehmerzahlen: Bei der Juniorwahl haben in diesem Jahr etwa eine Million Schüler ihre Stimme abgegeben. "1999 haben drei Schulen teilgenommen, jetzt sind es dreieinhalbtausend", sagt Wolff. Das Interesse sei über die Jahre stetig gewachsen - so sehr, dass gar nicht alle mitmachen können. "Wir mussten allein in Bayern 160 Schulen absagen", berichtet er. Der Grund: zu wenig Geld. Pro Schule kostet das Programm 250 Euro. Teilweise gibt es zwar Fördermittel, doch insgesamt reich das Vermögen des Vereins nicht, um noch mehr Teilnehmer zu finanzieren. An der U18-Wahl nahmen dieses Jahr 220.000 Minderjährige teil.
Warum Arbeiten die Initiativen nicht zusammen?
Die Verantwortlichen kennen und schätzen sich zwar. "Der außerschulische Bereich ist der schwerere", sagt etwa Juniorwahl-Projektleiter Wolff anerkennend über das Konzept der U18. Manchmal vertreten beide Initiativen auch gemeinsam ihr Anliegen: "Wir sitzen immer wieder zusammen auf dem Podium", sagt Bundesjugendring-Sprecher Scholl. Doch insgesamt seien die Ansätze zu unterschiedlich. "Die Juniorwahl kann nicht außerschulisch funktionieren", glaubt Wolff, "die Zielrichtung ist die gleiche, das Konzept ein anderes." Er ist der Überzeugung, dass es an den Schulen mehr Potenzial für politische Bildung gibt, während die U18-Vertreter ihr offenes Konzept beibehalten wollen. "Wir versuchen, zur politischen Bildung anzuregen. Die Jugendlichen sollen selber gestalten und nicht so, wie die Erwachsenen denken, dass politische Bildung gemacht sein muss", erklärt Scholl. Er betont aber: "Beides ist gut."
Hintergrund: Wie alt man sein muss, um zu wählen, ist in Artikel 38 des Grundgesetzes, Absatz 2 festgelegt: „Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat." Dass Kinder und Jugendliche mehr Möglichkeiten zur politischen Mitbestimmung bekommen, wird immer wieder gefordert. Bisher gibt es aber keine entsprechende Gesetzgebung. Studien legen nahe, dass Projekte wie die U18- oder Juniorwahlen zu mehr Wissen und Diskussionsbereitschaft bei den Jugendlichen führen können. Teilweise dehnt sich dieser Effekt auch auf die Familien der Teilnehmer aus. In geringem Maß kann dies auch die Wahlbeteiligung unter den Eltern erhöhen.
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