Hunger und Elend förderten in der Region den Umsturz

Lorenz Bomhard

Ressortleiter Metropolregion Nürnberg und Bayern

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10.11.2018, 08:00 Uhr
Hunger und Elend förderten in der Region den Umsturz

© Stadtarchiv Erlangen

Der Zerfall des Kaiserreiches war auch in Nürnberg mit Händen zu greifen. Die anfängliche Kriegseuphorie war bitterer Ernüchterung gewichen. Vom 11. Oktober 1918 ist eine Polizeiakte überliefert, die Bände über den Zerfall des Obrigkeitsstaates spricht. Am Nürnberger Hauptbahnhof stellte ein Leutnant einen Unteroffizier zur Rede, der ihm den militärischen Gruß verweigerte. Der Mann weigert sich standhaft, fängt am ganzen Körper an zu zittern und schreit laut. Schnell bildet sich eine Menschentraube um die beiden Militärs.

"Haut ihn zusammen"

Dann geht alles ganz schnell. Der Leutnant nimmt den Unteroffizier fest und schleift ihn zur Bahnhofskommandatur. 200 aufgebrachte Menschen, darunter auch Soldaten einfacher Dienstgrade, folgen ihnen und brüllen: "Haut ihn zusammen." Der Leutnant flüchtet sich inzwischen verängstigt in eine Wirtschaft.

Fensterscheiben gehen zu Bruch. Die Menge will das Gasthaus stürmen, als zwei Polizisten ihre Waffen ziehen und schießen. Zwei Personen werden getroffen. Der Leutnant entkommt durch die Hintertür.

Das geschieht zu einer Zeit, da nach lautem Hurra-Geschrei plötzlich der Krieg verloren war. Siegeshoffnungen hatten auch die Nürnberger Kaufleute und Industriellen verblendet. Sie hofften tatsächlich auf die Annexion von Belgien und Holland. Hintergrund waren Pläne des Nürnberger Kanalvereins für den Rhein-Main-Donau-Kanal, der schließlich 50 Jahre später gebaut wurde. Ludwig III. von Bayern hatte sogar offen von einem bayerischen "Ausgang vom Rhein zum Meer" gesprochen.

Viele Tote durch Lungenpest

Stattdessen nun Armut und Elend. Allein in Nürnberg starben 1918 mehr als 700 Menschen an Lungentuberkulose; die Krankheit brach aus, weil die Patienten vorher durch Unterernährung geschwächt waren.

Dann die Grippewelle: Binnen weniger Monate starben in Nürnberg fast 700 Menschen an der Viruserkrankung. Die Influenza wütete im ganzen Land und an der Front. Schulen, wie etwa im Forchheimer Land, mussten geschlossen werden. Die Krankheit wurde wegen der Komplikationen wie Lungenentzündung bald "Lungenpest" genannt. Manche stellten einen Zusammenhang zu den an der Front eingesetzten Giftgasen her und forderten schon deshalb ein sofortiges Ende des Krieges.

Hunger und Elend förderten in der Region den Umsturz

© Stadtarchiv Erlangen

Der Hunger trieb die Menschen um. So wurden beispielsweise seit 1916 Klagen über den Fleischmangel in den großen Städten laut, dann gab es plötzlich keine Kartoffeln mehr, für Butter standen die Frauen stundenlang an. Im Juli 1916 hatte es erstmals Unruhen in Nürnberg wegen des Buttermangels gegeben.

In der Rieterstraße im Stadtteil St. Johannis warfen Passanten Steine auf Polizisten. Im März 1917 gab es erneut Unruhen, Frauen forderten die vorzeitig Ausgabe von Brotmarken. Mit diesen Krawallen einher ging der schleichende Autoritätsverlust der Behörden.

In Nürnberg wuchs täglich die Zahl der Notunterkünfte. Die Kriegsindustrie bietet Arbeit, das zog fast 20 000 Neubürger an, für die es aber keine Wohnungen gab. Schlafplätze fanden sie in Elendsquartieren, in Baracken, in Schulen und Kasernen.

Freilich, am Land und in den Kleinstädten ist die Lage zu diesem Zeitpunkt noch besser. Wer einen Garten hat, ist Selbstversorger. Aus Gunzenhausen wird 1918 zwar allgemeine Lebensmittel- und Kohleknappheit gemeldet, doch der Fleischverbrauch war noch immer stark, heißt es in alten Unterlagen.

In Neumarkt standen im Herbst 1918 zunehmend Nüsse und Bucheckern auf dem Speisezettel. Für Eichhörnchen gab es daher Abschussprämien, gegen Vorlage des Schweifs. Ein Stadtchronist vermutet, dass die possierlichen Tiere in der Pfanne landeten. Kinder sammelten sechs Zentner Kastanien, um Mehl zu strecken.

Verstümmelte Männer

Der Krieg ist längst in der Heimat angekommen. Ob Gunzenhausen, Forchheim, Erlangen oder Neumarkt: 1918 häufen sich die Todesanzeigen. Wenn ein Regiment etwa bei der französisch-britischen August-Offensive aufgerieben wird, trifft es oft gleich mehrere Brüder oder Freunde aus einer Ortschaft, weil sie zusammen in den Krieg gezogen waren.

Hunger und Elend förderten in der Region den Umsturz

© Stadtarchiv Heidelberg/Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg/dpa

Und dann die Lazarette. Der Krieg entlässt verstümmelte und zitternde Männer, die gepflegt werden müssen. Körperliche und seelische Wracks. Allein das kleine Gunzenhausen zählt im letzten Kriegsjahr vier Lazarette. Nur wenige Soldaten können wieder für den Fronteinsatz kuriert werden.

In Neumarkt machen Verwundete Ärger. Aus den Lazaretten gewiesene Soldaten werden im Rathaus untergebracht. Dort drehen sie die Gashähne auf und drohen, das Wahrzeichen der Stadt in die Luft zu jagen.

Als Kurt Eisner am 7. November 1918 in München den Freistaat Bayern ausruft und eine Revolutionsregierung bildet, schwappt der Aufstand schnell nach Norden. Am Vormittag des 8. November rissen sich Soldaten in Nürnberg gegenseitig die Reichskokarden ab, also die schwarz-weiß-roten Abzeichen an Mützen und Helmen. Den Offizieren stibitzten sie die Achselstücke. Damit waren die Symbole des Krieges weg und die Armee äußerlich ein Volksheer, wie es die Revolutionsproklamation gefordert hatte.

Äußerlichkeiten waren es auch, die den Soldatenrat in Nürnberg umtrieben. Eine Abordnung machte sich ins Rathaus auf und holte beim Hausmeister die alten Fahnen des Kaiserreichs ab.

Soldaten aus München kamen erst nachmittags am Hauptbahnhof an. Sogleich bildete sich ein Zug mit einer roten Fahne voran. Die Revolutionäre besetzten die Post, das Büro der Kriminalpolizei, das Telegraphenamt und den Bahnhof. Ein provisorischer Arbeiter- und Soldatenrat konstituierte sich im Redaktionsbüro der Fränkischen Tagespost.

Diese sozialdemokratische Zeitung spielte eine ganz besondere Rolle. Kurt Eisner war 1907 bis 1910 Chefredakteur der Zeitung gewesen. Sein Verhältnis zu seiner Mitarbeiterin Elise "Else" Belli (1887–1940) wurde parteiintern zum Skandal, Eisner zog mit seiner Freundin nach München — und rief 1918 den Freistaat aus.

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© Franze

Sein Nachfolger Adolf Braun hatte als erster Journalist in Deutschland am 19. Oktober 1918 die Abdankung Kaiser Wilhelms II. gefordert. Das Blatt erlebte binnen weniger Tage eine Verdreifachung der Auflage auf 30 000 und wurde beispielsweise auch im Raum Forchheim begeistert gelesen. Der Bayreuther Regierungspräsident Otto von Strößenreuther freute sich wenig über solche Gedanken. Er befürchtete, "dass alles, was dem Deutschen heilig war, in den Schmutz gezogen und die Notwendigkeit der Republik mundgerecht gemacht" werde. Strößenreuther konnte nicht wissen, dass die Umstürzler überzeugte Pazifisten waren und die alte Bürokratie weitgehend in Ruhe ließen. "In dieser Zeit sinnlosen wilden Mordens verabscheuen wir jedes unnütze Blutvergießen. Jedes Menschenleben ist heilig", heißt es im Revolutionsaufruf.

Auch in Erlangen kam die Botschaft an. Dort übernahmen Arbeiter- und Soldatenräte am 9. November die Macht. Wichtig war den Revolutionären, dass die Verwaltung ungestört weiterarbeiten konnte. Existenziell war vor allem die Lebensmittelversorgung.

Auch in Gunzenhausen konstituierte sich am 9. November ein Arbeiter- und Soldatenrat als Organ der Selbstverwaltung. Dazu gesellte sich ein Bauernrat, der mit den Arbeitern und Soldaten nun an den Sitzungen des bisherigen königlichen Stadtmagistrats teilnahm.

Bei ihrer ersten gemeinsamen Sitzung am 15. November 1918 geht es ums Essen: Nicht nur Kriegerfamilien, sondern auch Bedürftige sollen von der Kommune Kartoffeln bekommen. Die höchsten Familienunterstützungszuschläge beschließt das Gremien für Ehefrauen von Soldaten.

Weitere Tagesordnungspunkte sind die Beschaffung von Arbeit und Wohnungen für heimkehrende Soldaten. Und sie schneiden alte Zöpfe ab: Das städtische Bürgerrecht, das bisher an eine hohe Aufnahmegebühr geknüpft war, sollte in der Altmühlstadt fortan kostenlos verliehen werden.

An dieser Seite haben mitgewirkt: Kerstin Goetzke, Andreas Jakob, Volker Dittmar, Tina Ellinger, Werner Mühlhäußer, Manfred Franze, Nicolas Damm, Werner Sittauer.

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