Lehrerverband schlägt Alarm
Lehrermangel und Corona-Verwaltungswahnsinn: Insbesondere Mittelschulen bluten aus
4.10.2021, 14:56 UhrVielen Lehrern platzt der Kragen, ob der Aussage von Markus Söder, es habe in Bayern noch nie so viele Lehrkräfte gegeben, wie jetzt.
Rekord zum neuen Schuljahr: Erstmals gibt es in Bayern über 100.000 Lehrkräfte im Schuldienst des Freistaats. Das sind so viele wie nie zuvor. Insgesamt sind es mehr als 150.000 Lehrer. Bayern ist Bildungsland. Kann mich auch gut an meinen Schulstart und die Lehrer erinnern 😀 pic.twitter.com/inmgPsTwXY
— Markus Söder (@Markus_Soeder) September 14, 2021
Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) erlebt täglich, wie es um die Schullandschaft bestellt ist. "Wir distanzieren uns ganz klar vom Narrativ der Staatsregierung, Bayern sei in der Bildung bestens gerüstet", sagt Fleischmann.
Das Konstrukt sei nicht mehr als ein Kartenhaus, das früher oder später unweigerlich in sich zusammenfällt. Insbesondere an den Grund- und Mittelschulen sei der Lehrermangel eklatant. Vielerorts müssten sich bereits jetzt mehrere Grundschulklassen eine Klassleitung teilen. Wenn Leitungen ganz fehlen, werden diese durch Nicht-Lehrkräfte oder Studenten ersetzt. Mobile Reserven, die eigentlich im Krankheitsfall oder im Falle einer Schwangerschaft einspringen, sind in vielen Landkreisen bereits jetzt schon aufgebraucht. Mittelschulkassen würden zusammengelegt, spezifische Angebote, wie die Vorbereitungsklassen, werden weggekürzt. Immer öfter wird der Lehrkräftemangel mit externen, fachfremden Personal aufgestockt. "Es gibt Schulen hier in Bayern, bei denen weniger als die Hälfte vollständig ausgebildete Lehrkräfte sind", sagt BLLV-Vizepräsident Tomi Neckov. Jeden dieser Punkte belegt er mit einem Beispiel.
"Neu ist, dass wir jetzt richtig tief drinstecken im Schlamassel", sagt Sandra Schäfer, Vorsitzende des Nürnberger LehrerInnenverbandes (NLLV). Konkret heißt das: Seit dem Schuljahr 2019/20 arbeiten Grundschullehrer eine Stunde mehr, um den Bedarf überhaupt zu decken. Und: Die Vorkurse in den Vorschulgruppen der Kindergärten wurden gestrichen. "Diese Vorkurse waren eine riesige Errungenschaft", sagt Schäfer. Diese wurden zur Hälfte von einem Erzieher oder Erzieherin der Kita geleistet und zur anderen von einer Grundschullehrkraft, um Kinder mit Sprachdefizit fit zu machen für die Grundschule.
Besonderer Raubbau wurde an den Mittelschulen betrieben. Die Lehrerstunden wurden hier pro Ganztagsklasse von zwölf auf neun pro Woche reduziert. Externe Kräfte, Quereinsteiger, Schulassistenten Teamlehrkräfte oder Ein-Fach-Lehrer müssen andere Stunden kompensieren. Wichtige Stunden wie Kunst, Sport und Musik werden unter "Randbereiche" gelistet und von Nicht-Lehrern unterrichtet.
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Die Verwaltung des bürokratischen Wahnsinns wegen bestehender Corona-Verordnungen läuft dann noch nebenbei. So manche Schulleiterin oder Schulleiter zwingt die Belastung in die Knie. Die Zahl der Rückernennungen in die normale Lehrerlaufbahn beobachtet nicht nur der BLLV sondern auch Schäfer in Nürnberg: "Das sind höchste Alarmsignale", warnt Schäfer.
"Es kotzt uns an, wenn wir nicht das machen dürfen, was wir können. Wir sind jetzt verantwortlich dafür, dass wenn das Lüftungsprotokoll nicht stimmt, die ganze Klasse in Quarantäne muss", bringt Fleischmann den Frust auf den Punkt. "Das Kartenhaus bröckelt, unsere Kräfte auch. Es wird Zeit von der Politik, zu handeln."
Dass der Lehrermangel insbesondere an Grund- und Mittelschulen in Zukunft noch dramatischer wird, zeigt sich auch in Prognosen und Zahlen: So brach laut BLLV beispielsweise zum letzten Wintersemester die Zahl der Studienanfänger für das Lehramt an Mittelschulen um 54 Prozent ein. Gleichzeitig fehlen in dieser Schulart bis 2025 ohnehin 1.650 Lehrerinnen und Lehrer laut Prognose des bayerischen Kultusministeriums.
Seit Jahren fordert der BLLV bessere Arbeitsbedingungen und eine gleichwertige Besoldung für alle Lehrer. Bisher verdienen Grund- und Mittelschullehrer weniger als Real- und Gymnasiallehrer.
Kultusminister Piazolo reagiert auf die öffentlich geäußerte Kritik prompt. "Es ist die Aufgabe von Verbänden, auf etwaige Probleme hinzuweisen und Verbesserungspotential aufzuzeigen. Es wäre aber wünschenswert, wenn man dabei auch die Realitäten im Blick behalten würde." Nur ein Prozent der Leitungsstellen an Grund- und Mittelschulen sei bis Ende des letzten Schuljahres vakant gewesen. Der Freistaat habe bereits vor Jahren eine Stellen- und Nachwuchsoffensive gestartet und es gebe eine verbesserte Schüler-Lehrer-Relation in Bayern in diesem Schuljahr.
Christine Stockfisch, Mitglied des NLLV und Schulleiterin der Grundschule Thoner Espan in Nürnberg, kann nach diesen Aussagen nur mit dem Kopf schütteln: "Ich würde Herrn Piazolo mal gerne für ein paar Tage einladen, das tägliche Geschäft mitzuerleben. Dann würde er erleben, dass die Realität ganz anders ist."