Mobile Therapie "to go"
23.1.2021, 05:58 UhrTrinken, um zu entspannen, trinken, um dem Druck standzuhalten, trinken, um dazuzugehören – die Gründe, warum jemand in die Alkoholsucht rutscht, sind vielfältig. Oft geschieht das schleichend, bis es kein Zurück mehr gibt.
Etwa 1,8 Millionen Deutsche zwischen 18 und 64 Jahren sind alkoholabhängig. Dazu kommen in etwa nochmal so viele, die, wie Mediziner sagen, einen „schädlichen“ Umgang mit Alkohol pflegen. Umgerechnet auf Nürnberg wären das insgesamt rund 20.000 Betroffene.
Letzter Ausweg: Entzug. Doch wer sich für eine medizinisch qualifizierte Behandlung entscheidet und sie durchsteht, ist damit längst nicht geheilt. „Gerade wenn man zurückkehrt in den gewohnten Alltag, ist die Gefahr eines Rückfalls besonders groß“, sagt Prof. Dr. Thomas Hillemacher.
Als Ärztlicher Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität am Klinikum Nürnberg verantwortet er auch den Qualifizierten Alkoholentzug mit bis zu 20 Plätzen dort sowie 16 am Standort Altdorf. Statistiken belegen, dass sich nur etwa ein Prozent der Patienten nach einem Entzug für die empfohlene Langzeittherapie in einer Fachklinik entscheidet. Wer das möchte, muss oft mit bis zu sechs Wochen Wartezeit rechnen.
Viele, die den stationären Entzug gemeistert haben, fühlen sich im Alltag alleingelassen und ratlos. Sie fallen in ein „Motivationsloch“ und können sich nicht aufraffen, einen geeigneten Psychotherapeuten zu suchen. Auch die sind außerdem rar. Dadurch steigt die ohnehin große Gefahr eines Rückfalls in dieser Phase. „Es gibt leider viel zu wenige Therapieplätze, um dem großen Bedarf gerecht zu werden“, sagt Hillemacher.
Für ihn ist die Konsequenz klar: „Wir müssen neue Wege gehen.“ Zusammen mit Prof. Dr. Matthias Berking, dem Lehrstuhlinhaber für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU), arbeitet er daran, die Versorgungslücke zu schließen.
Alkoholabhängige sollen nach dem stationären Entzug via Smartphone unterstützt werden. „Wir haben eine App entwickelt, die helfen soll, nach Abschluss des Entzugs einen Rückfall zu verhindern, den Weg in eine Entwöhnungstherapie zu finden oder weitere Beratungs- und Therapieangebote wahrzunehmen“, erklärt Berking. Vielen falle es leichter, eine App zu nutzen, als einen Arzt aufzusuchen – es sei ein „niederschwelliges Angebot“.
Schon auf der Station, wenn gegen Ende des Entzugs über das Leben „draußen“ gesprochen wird, gibt es eine Einweisung in die App: „Onboarding“ nennt Berking das. Der Patient soll motiviert und in die Lage versetzt werden, die Anwendung später allein auszuführen.
Sechs Wochen lang wird intensiv mit Hilfe der App gearbeitet; dann darf der Patient das digitale Angebot noch ein halbes Jahr in Anspruch nehmen. Im besten Fall wird die Behandlung dann durch einen niedergelassenen Psychotherapeuten fortgeführt, oder der Nutzer schließt sich einer geeigneten Selbsthilfegruppe an.
Für das Projekt „SmartAssistEnz“ stellt der Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses 2,4 Millionen Euro für drei Jahre bereit. Eine wissenschaftliche Studie soll dazu beitragen, die Anwendung in die Regelversorgung zu bringen – die Kostenübernahme durch alle gesetzlichen Krankenkassen eingeschlossen.
Von rund 250 Personen, die einen stationären Entzug abgeschlossen haben, wird der „Therapeut in der Hosentasche“ (Berking) derzeit getestet; 365 sollen es werden, um möglichst aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten. Beteiligt ist neben dem Klinikum Nürnberg und dem Krankenhaus Altdorf unter anderem auch das Universitätsklinikum Erlangen; auch die AOK Bayern sowie die Universität Bamberg zählen zu den Partnern.
Im Zuge der Digitalisierung des Gesundheitswesens geraten solche Anwendungen zunehmend in den Fokus von Forschung und Öffentlichkeit. Denn nicht nur Alkoholabhängige können davon profitieren.
Berking erforscht mit seinem Team unter anderem die Wirkung bei leichten und mittelschweren Depressionen, wie sie auch bei Suchtkranken häufig auftreten. In Deutschland sind mehr als fünf Millionen Erwachsene von Depressionen betroffen, Kinder und über 79-Jährige nicht mitgerechnet. Die Versorgungslage für Patienten, die nach einer stationären Behandlung in aller Regel eine therapeutische Begleitung brauchen, ist jedoch auch hier unzureichend: Es gibt kaum freie Therapeuten und lange Wartezeiten.
Eine mögliche Lösung will die „Smartphone-basierte Depressionsintervention“ aufzeigen, die von Berking auch in Zusammenarbeit mit dem Nürnberger Klinikum evaluiert wird. Frühere Studien kamen bereits zu dem Ergebnis, dass schwer Depressive auf eine „Therapie to go“ keine Resonanz zeigen, bei leichten bis mittelschweren Formen aber durchaus Effekte messbar sind. „Eine schwere Depression braucht immer eine persönliche, professionelle Behandlung“, stellt Hillemacher klar.
Grundsätzlich sei eine App besonders erfolgreich, wenn sie mit einem persönlichen Kontakt verbunden sei, erklärt Berking. Wenigstens ein Mal pro Woche sollen daher die Nutzer seiner Anwendungen ein Gespräch mit dem „E-Coach“ führen, einem qualifizierten Therapeuten aus Fleisch und Blut.
„Das gesamte Angebot ist individuell auf den Patienten abgestimmt“, sagt Berking. Neben motivierenden Inhalten und Übungen erhält der Nutzer ein Mal pro Tag eine SMS, die ihn fragt, wie es ihm geht. Fällt die Antwort negativ aus oder ergeben sich Hinweise auf Suizidgefährdung – dies kann ein Algorithmus ermitteln – meldet sich der Therapeut per Telefon.
Nicht zuletzt die Corona-Pandemie zeigt, wie wichtig derartige Projekte sind, wenn Therapie nicht vor Ort möglich ist und persönliche Sitzungen ausfallen müssen. „Hier können Telefon- und Videosprechstunden helfen – oder eben eine App“, sagt Hillemacher. Ende 2021 erwartet Berking erste belastbare Ergebnisse in Bezug auf die Wirksamkeit und Kosteneffektivität der Kooperationsprojekte.
Sollten sie offiziell zugelassen werden, könnten sie viele Menschen zurück in ihr neues Leben begleiten – immer griffbereit, wenn es darauf ankommt.
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