Müssen Kliniken aus Geldnot mit Frühchen tricksen?
22.10.2014, 06:00 UhrBlasensprung, Gebärmutterhals-Verkürzung, vorzeitige Wehen: Anzeichen für eine drohende Frühgeburt gibt es mehrere. Dass das Baby in solchen Fällen nicht automatisch viel zu früh auf die Welt kommt, können Mediziner vielfach hinauszögern oder sogar verhindern – wenn sie ihr Möglichstes tun, um die Schwangerschaft zu verlängern. Doch, das legen Statistiken nahe, dies geschieht offenbar nicht immer – mit weitreichenden Folgen für die Frühchen und ihre Angehörigen, aber auch für das Gesundheitssystem.
Je unreifer ein Baby geboren wird, desto mehr gesundheitliche Probleme plagen den Winzling — und mit ihm seine Eltern, die oft schon die abrupte Entbindung völlig aus der Bahn wirft. Das eigene Kind verdrahtet und beatmet im Brutkasten zu sehen, ist verstörend und beängstigend. Gerade bei Extrem- Frühchen, die weniger als 1000 Gramm wiegen und weit vor der 37. Schwangerschaftswoche entbunden werden, häufen sich die Komplikationen. Die Nieren arbeiten nicht richtig, die Atmung setzt immer wieder aus, es kann zu Hirnblutungen kommen.
„Wenn ökonomische Anreize so gesetzt werden, dass Kinder möglichst kurz nach stationärer Aufnahme entbunden werden und es sogar finanzielle Belohnungen für Frühgeburten im Fallpauschalensystem gibt, ist das unseres Erachtens der falsche Regulierungsansatz“, kritisiert Professor Matthias W. Beckmann.
Der Klinikdirektor der Erlanger Uni-Frauenklinik ist zugleich Finanzexperte der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe und sieht — wie seine Verbandskollegen — seit Jahren einen „besorgniserregenden Trend“: Schwangere mit drohender Frühgeburt lägen zu kurz in der Klinik, meint Beckmann. Die Zahl der Frühgeburten sei deshalb zu hoch, obwohl diese in vielen Fällen vermeid- oder zumindest hinauszögerbar wären, etwa durch die Gabe von Wehenhemmern und strenger Bettruhe im Krankenhaus.
Den Hauptgrund für diese Fehlentwicklung sieht der Spezialist aus Bayerns kleinster Großstadt im Fallpauschalensystem. Dieses Vergütungsmodell wird seit zehn Jahren im Gesundheitssystem angewandt. Derzeit wird über das Verfahren ein Finanzierungsvolumen von 70 Milliarden Euro umgesetzt. Nach diesem System bezahlen die Krankenkassen pro Patient eine bestimmte medizinische Leistung, Behandlungsdauer oder Liegezeit bleiben im Regelfall unberücksichtigt.
Einsatz wird nicht belohnt
Die Folge: Ab dem siebten Tag, an dem eine Schwangere im Krankenhaus liegt, mache die Klinik ein Minusgeschäft, sagt Beckmann und erhält Unterstützung von seinem Nürnberger Kollegen Prof. Franz Kainer. Der Chefarzt der Geburtshilfe in der Klinik Hallerwiese bestätigt, dass Krankenhäuser gerade nicht dafür belohnt würden, wenn sie — wie es medizinisch oft sinnvoll wäre — eine Schwangere mit drohender Frühgeburt möglichst bis zur 36. Schwangerschaftswoche bringen.
Ein „finanzielles Chaos“ würde vielmehr ausgelöst, wenn eine Patientin sechs, sieben Wochen in der Klinik liegt und dann eine natürliche Geburt hat. Auch an einem Kaiserschnitt lässt sich nämlich besser verdienen. Gerade kleinere Einrichtungen, so Kainer, gerieten finanziell schnell unter Druck, wenn sie mehrere derartige Fälle zu betreuen hätten.
Die Einschätzungen der Mediziner will die Vertreterin des GKV-Spitzenverbandes nicht unkommentiert lassen. Die zentrale Interessenvertretung der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen ist an der Entstehung der Fallpauschalen beteiligt. Jede Klinik, sagt Sprecherin Claudia Widmaier, könne seit dem Jahr 2005 in einem Fall mit längerer Liegezeit Zuschläge beantragen. „Nach Einschätzung unserer Fachleute benutzen viele Kliniken diesen Code jedoch nicht.“ Warum, sei unklar. „Wenn Ärzte oder Kliniken jedenfalls meinen, diese Vergütung sei nicht ausreichend, müssen sie das mit Fakten belegen.“
Keinen einzigen Fall im Bundesgebiet kenne er, hält Beckmann aus Erlangen dagegen, in dem einer Klinik solch ein Zuschlag gewährt wurde. Um seine Argumentation von einem falschen Anreizsystem zu stützen, verweist der Professor auch auf die Geburtsstatistiken. Obwohl die Zahl der Frühgeburten in Bayern prozentual über die vergangenen 15 Jahre hinweg gleich blieb, gibt es bei genauerer Betrachtung der Zahlen tatsächlich Auffälligkeiten.
Kein Wunder, meint Beckmann. Schließlich sei es finanziell rentabel für die jeweilige Einrichtung, wenn ein möglichst leichtes Extrem- Frühchen für viele Wochen auf einer Intensiv-Station betreut wird. Dabei seien für die Kassen die Kosten am Ende viel höher, wenn Babys viel zu früh auf die Welt kommen. Zum Vergleich: Während die Versorgung einer Schwangeren zwischen 300 und 500 Euro pro Tag kostet, fallen für Frühchen auf der Intensivstation pro Tag zwischen 1600 und 2000 Euro an.
Ein Gramm heißt 15 000 Euro
Im Freistaat kamen zwischen den Jahren 1998 und 2003 zwischen 6,5 und 7,2 Prozent der Babys als Frühchen zur Welt, davon zwischen 0,9 und 1,1 Prozent noch vor der 32. Woche. Die Zahl der Schwangeren schwankte im gleichen Zeitraum zwischen 98 200 und 108 950. Gesammelt werden die Daten von der bayerischen Arbeitsgemeinschaft Qualitätssicherung in der Stationären Versorgung, die der Bayerischen Krankenhausgesellschaft e. V. angegliedert ist.
Auffallend häufig, etwa im Jahr 2011, lag das jeweilige Geburtsgewicht der Frühchen jedoch an drei für die Krankenhäuser aus finanziellen Gründen relevanten Schwellenwerten. Medizinisch besitzen diese Marksteine indes keine Relevanz. Hohe Ausschläge auf der Statistik-Kurve gibt es etwa bei einem Gewicht von unter 750 Gramm. Wiegt ein Baby demnach 749 statt 750 Gramm, erhält die Klinik über 15 000 Euro mehr von der Krankenkasse für die Versorgung.
Dass diese „Häufung auffällig ist“, sieht auch GKV-Vertreterin Widmaier und vermutet, dass „die Auffälligkeit im Zusammenhang mit dem Thema Falschabrechnungen im Krankenhaus eine Rolle spielen“ könnte. „Die Richtigkeit der Geburtsgewichtsangabe kann von den Kassen im Nachhinein kaum überprüft werden.“
Und die Ärzte? Welche Rolle spielen diese? Während vor 20 Jahren als guter Arzt jener galt, der medizinisch alles richtig machte, müsse der angesehene Mediziner heute auch die Kosten im Blick behalten, sagt Kainer von der Klinik Hallerwiese. Tue er das nicht, gerate er schnell in Erklärungsnot gegenüber den Klinik-Controllern, weiß auch Kollege Beckmann. Wenn die Bilanz nicht stimmt, wird schnell Personal abgezogen, wodurch das Qualitätsniveau nicht zu halten ist.
Deshalb würde es auch Kainer nicht überraschen, wenn in manchen, vor allem kleineren Kliniken der Kostendruck dazu führt, dass Betroffenen zu früh zur Geburtseinleitung oder zum Kaiserschnitt geraten wird. „Medizinisch wäre das allerdings eine Katastrophe und ethisch völlig indiskutabel.“
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