Neue Zifferblätter für Big Ben kommen aus der Region
2.8.2019, 09:16 UhrWer kennt sie nicht, die unverwechselbare Melodie, die sein Glockenwerk normalerweise jede Viertelstunde erklingen lässt? Zurzeit allerdings ist der offiziell Elizabeth Tower genannte Glockenturm neben dem britischen Parlamentsgebäude ein Sanierungsfall. Die fünf Glocken schweigen, denn unter anderem das Uhrwerk muss aufwendig restauriert werden.
Auch an den vier Zifferblättern der wahrscheinlich berühmtesten Turmuhr der Welt hat in den vergangenen Jahrzehnten der Zahn der Zeit genagt, und das Ersatzmaterial dafür kommt aus der Metropolregion Nürnberg. In den vergangenen Monaten hat die Glashütte Lamberts aus Waldsassen (Landkreis Tirschenreuth) knapp 1300 Glasplatten gefertigt, aus denen die Fachleute in London nun vier Mosaike mit jeweils sieben Metern Durchmesser zusammensetzen.
Jede dieser 60 mal 90 Zentimeter großen Glasplatten ist ein mundgeblasenes Unikat, das von Spezialisten auf traditionelle Weise in vielen Arbeitsschritten gefertigt wird. Der Auftrag sei nicht der größte in der Firmengeschichte, aber wohl einer der prestigeträchtigsten, sagt Marketingleiter Robert Christ. Drei Jahre Planung mit vielen Absprachen mit der für den Zifferblatt-Bau verantwortlichen Firma in Großbritannien und gegenseitigen Besuchen liegen hinter der Waldsassener Firmenspitze, vor kurzem ging die letzte Lieferung an die britischen Auftraggeber.
Über 5000 verschiedene Farbtöne möglich
Dass künftig Glas aus der Oberpfalz hoch über Londons City strahlen wird, ist kein Zufall. Die 1934 gegründete Glashütte Lamberts ist einer von nur noch drei Herstellern weltweit für mundgeblasenes Flachglas. "Unsere Mitbewerber in Frankreich und in Polen sind aber kleiner als wir und können auch nicht mit unserer Produktvielfalt konkurrieren", erzählt Robert Christ nicht ohne Stolz. Glas in über 5000 verschiedenen Farbtönen können die 70 Mitarbeiter in Waldsassen produzieren – "das sind mehr als zehnmal so viel wie bei den anderen Herstellern".
Wenn man sich die Referenzen auf der Lamberts-Homepage ansieht, kann man sich denn auch durch eine beeindruckende Zahl von Projekten klicken. Ob historische oder moderne Kirchen, Moscheen oder andere Sakralbauten, Flughäfen, Museen oder Luxushotels – das Know-how aus Nordbayern ist offensichtlich in aller Welt gefragt.
Die Glasherstellung ist ohnehin einer der prägenden Wirtschaftszweige in dieser Region. Vor allem im Norden der Oberpfalz finden sich zahlreiche produzierende und veredelnde Unternehmen verschiedener Größen und Ausrichtungen und Zulieferer wie Glasofenbauer, spezialisierte Werkzeugmacher und Formenbauer. Im benachbarten Mitterteich zum Beispiel ist mit der Schott AG ein echter Global Player ansässig. Über 1000 Beschäftigte des weltweit agierenden Konzerns produzieren dort Spezialglasröhren für technische und pharmazeutische Zwecke.
In der bereits 1906 errichteten Fabrikhalle der Glashütte Lamberts dagegen dominiert nach wie vor Hand- beziehungsweise Mundarbeit. Erfahrene Mitarbeiter holen die glühend heiße Glasmasse mit traditionellen Glasmacherpfeifen aus den Schmelzöfen und geben dem Glas durch Drehen und gleichzeitiges Einblasen die richtige Form. Die Glasballons werden dann erneut erhitzt, zu Zylindern geschnitten und nach weiterem Erhitzen aufgeschnitten und aufgeklappt. Mit einem speziellen Stück Holz wird die wellige Glastafel schließlich glatt "gebügelt".
"Die Perfektion des Unperfekten"
Das Ergebnis dieses angesichts des empfindlichen Ausgangsstoffs überaus kniffligen und anstrengenden Kunsthandwerks sind Glasplatten, von denen keine der anderen gleicht. "Im Gegensatz zu industriell gefertigtem Flachglas haben unsere Produkte eine Seele", schwärmt Robert Christ. Die Oberflächenstruktur unterscheide sich erheblich, und durch die Lufteinschlüsse und die Unregelmäßigkeiten im Glas werde das Licht von mundgeblasenem Glas ganz anders reflektiert. "Unsere Arbeit steht für die Perfektion des Unperfekten", formuliert es der Marketingleiter.
Für die neuen Zifferblätter des Elizabeth Towers wurde sogenanntes opakes beziehungsweise halbtransparentes Glas in Waldsassen geordert, das hindurchfallendes Licht in einen gedämpften diffusen Lichtschein verwandelt. Damit soll der unverwechselbare Look des weltberühmten Wahrzeichens der britischen Metropole, gerade in der Nacht, erhalten werden.
Über die Kosten für die neuen Zifferblätter hüllt sich Christ in Schweigen, doch die Rechnung aus Waldsassen wird wahrscheinlich einer der kleineren Posten auf der Rechnung für die gesamte Sanierung des Westminster Palace sein. Einer der vorliegenden Pläne sieht eine Sanierungszeit von sechs Jahren und Kosten von etwa vier Milliarden Euro vor.
2 Kommentare
Um selbst einen Kommentar abgeben zu können, müssen Sie sich einloggen oder sich vorher registrieren.
0/1000 Zeichen