Tränen am Telefon
Einmarsch der Taliban: Das erzählen Angehörige in Afghanistan
17.8.2021, 07:45 UhrDas Smartphone legt Sakhi Ahmed Sarwari kaum noch aus der Hand. „Jede Sekunde“, sagt der in Neustadt arbeitende 22-Jährige, steht er in Kontakt mit seiner Familie in Afghanistan, mit den beiden Brüdern, die nach Kabul geflohen sind, mit seinen Eltern in Masar-e Scharif. Er versucht, aus der Ferne zu helfen, ein Visum zu bekommen, für eines der Nachbarländer, denn wie sich die Situation in Afghanistan weiterentwickelt: Niemand weiß es, die Ängste sind groß.
Die Bilder und Berichte der vergangenen Tage und der Nacht zum Montag, als die Taliban Kabul eingenommen haben, hat auch Dr. Hartmut Felbinger mit Entsetzen verfolgt. 2009 bis 2012 hat der Burgbernheimer an einer Schule in der Hauptstadt Kabul unterrichtet. Mit früheren Kolleginnen hat er Kontakt, wie es den Einheimischen geht, die als Fahrer, Übersetzer oder Koch für die Schule gearbeitet haben, weiß er noch nicht. Felbinger macht sich große Sorgen. Werden die Taliban sie bestrafen für ihre Arbeit für die Deutschen? Was ist mit den Mädchen, die auf den Bildern, die er zeigt, fröhlich lächelnd im Klassenzimmer sitzen? Was werden sie noch dürfen?
Nur in Begleitung aus dem Haus
Universitäten und Schulen sind geschlossen, ebenso alle Läden. „Meine Schwester hat über eine Stunde lang am Telefon nur geweint“, erzählt Sarwari. Ihre Lebensträume scheinen sich in Luft aufzulösen. In Masar-e Scharif, sagt Sarwari, heiße es schon wieder, Frauen dürften nur noch in männlicher Begleitung das Haus verlassen.
Er selbst war als Zehnjähriger mit seinem Onkel aus Afghanistan geflohen, lebte zunächst im Iran, seit sechs Jahren nun in Deutschland. Er hat eine Ausbildung zum Medientechnologen abgeschlossen und arbeitet in einer Druckerei, mit derzeit einem Aufenthaltsrecht für ein Jahr. Im Januar hatte er nach langer Zeit zum ersten Mal seine Eltern wieder besuchen können. Da sei es „noch nicht so schlimm“ gewesen in Afghanistan, sagt er. „Jede Sekunde kann es schlimmer werden.“ Seine Brüder bleiben aus Angst vor den Taliban in der Wohnung, Bilder zu machen für die Zeitung in Deutschland scheint ihnen zu gefährlich.
Angst vor der Abschiebung
Bis vor Kurzem sollte noch nach Afghanistan abgeschoben werden, erzählt Rainer Krug, der zunächst beruflich und ehrenamtlich junge Afghanen im Landkreis betreut hat. Manche bekamen ein Aufenthaltsrecht, anderen droht selbst jetzt grundsätzlich noch die Abschiebung, auch wenn diese nun vorerst ausgesetzt ist. Im Landkreis sei seines Wissens niemand abgeschoben worden, sagt Krug. Auch weil er sich massiv eingesetzt habe, bis hin zum Kirchenasyl, in das sich Meisam Atay nach Schweinfurt geflüchtet hatte. Dank des Petitionsausschusses des Landtages ist er nun „geduldet“, darf arbeiten. Seine Mutter lebt noch in Kabul. Seit drei Tagen hat er sich nicht telefonisch erreichen können, die Leitungen sind schlecht. Nur eine kurze Nachricht hat er, dass es ihr gut gehe.
Selbst bei den Taliban
Andere sind aus Angst vor Abschiebung aus Deutschland in andere Europäische Länder geflohen, wie Krug erzählt. Nur einer seiner Schützlinge sei „freiwillig“ zurück, erzählt Krug, obwohl Vater und Bruder von den Taliban getötet worden waren, er deshalb geflohen war. Nun habe er sich, so hat Krug gehört, selbst den Taliban angeschlossen. Er habe wohl keine Wahl gehabt, schätzt der 66-Jährige. Seiner Stimme hört man die Frustration an.
Felbinger ist angesichts dessen, was er aus Afghanistan sieht, wütend: über den Abzug, der keine tragfähigen Struktur hinterlassen hat, über das, was in 20 Jahren im Bildungssystem aufgebaut wurde und nun verloren scheint. Und er macht sich Sorgen, wie viele andere auch.
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