30 Jahre Mauerfall: Schreiben ohne Mauer im Kopf
7.11.2019, 14:02 Uhr"Es fällt schwer, noch weiterzuatmen, wenn die Geschichte atemlos wird." NZ-Leitartikel, 11. November 1989
Der wunderbare Werdegang der DDR-Bürger gipfelte in der NZ am 17. November. Da adelte ein Lokalreporter sie zu "den Brüdern und Schwestern aus dem anderen Teil Deutschlands". In einem ansonsten sachlichen Nachrichtentext wohlgemerkt. Da verbieten sich normalerweise sakrale Metaphern. Aber wenn nichts mehr normal ist im Land?
Noch zehn Tage zuvor hatten die Lokalberichte, um Neutralität ringend, von DDR-Übersiedlern gesprochen, von Umsiedlern und sogar Aussiedlern. Gemeint waren die Ströme von Sachsen oder Brandenburgern, die ab August im Zuge von Ausreiselockerungen über Ungarn und die Tschechoslowakei durch Bayern zogen. Niemand wusste, wie lange und wohin. Zuletzt kamen täglich 10.000. Das befremdete. In Nürnberg schliefen die Scharen in der Aussiedler-Durchgangsstelle an den Grundig-Türmen, sie belegten Awo-Heime und die Infanteriekaserne an der Gustav-Adolf- Straße. "Windeln gefragt", steht über einem dieser Artikel. Die Probleme mit den überfüllten Aufnahmelagern ähneln auch der aktuellen Situation. Nur dass die Flüchtlinge damals Landsleute waren.
"Die DDR war für mich ein fernes Land"
Worte schaffen Wirklichkeit, heißt es. Manchmal ist es aber umgekehrt. Die Wirklichkeit verändert sich so schnell, dass die Worte hinterherlaufen müssen. Was am 9. November in Berlin geschah, kam auch für Journalisten völlig überraschend, sogar für Geheimdienste, man vergisst das heute. Der Eiserne Vorhang fiel, und die "Flüchtlinge" mutierten in den nächsten Texten zu "DDR-Gästen", milder noch, zu "Touristen". Und eben zu Blutsverwandten. Er erinnere sich noch, erzählt der ehemaliger NZ-Chefredakteur Raimund Kirch, wie sein damaliger Chef Gustav Roeder in diesen Tagen Kollegen befragte, ob er das Wort "Ossi" schreiben dürfe. Ob es beleidigend sei? Oder ob es eigentlich "Osti" und "Westi" heißen müsste?
Der DDR-Bürger war 1989 erst einmal der DDR-Bürger, wie Nürnberg ihn sich unbekannterweise vorstellte. "Die DDR war für mich ein fernes Land", sagt Kirch. "Ich hatte keine Verwandtschaft dort, ich hatte es gedanklich abgeschrieben." So ging es vielen, das mag zur Erklärung beitragen, warum die NZ-Titelseite am Morgen danach die Grenzöffnung noch zurückhaltend bewertete.
Immerhin wurde die Hauptschlagzeile als "sensationelle Nachricht" verkauft. Aber der Kommentar des stellvertretenden Chefredakteurs Alexander Rhomberg drückte Misstrauen in Form von Geldsorgen aus. Die neue Freiheit bringe Probleme: Der soziale Friede gerate durch die Flüchtlingsströme in Gefahr, die wirtschaftlich tote DDR nehme die Bundesrepublik in die Pflicht. "Die Verwirklichung mancher Träume kostet eben ihr Geld", schloss Rhomberg lapidar. Dass dann gegen Mitternacht in Berlin Menschenströme durch die Schlagbäume brachen, konnte er nicht mehr abdrucken. Zeitungsseiten waren seinerzeit abends noch erheblich schwieriger zu verändern.
Tränen- und Hurra- Nachrichten, Verunsicherung
Erst in der Ausgabe vom 11. November würdigte die Zeitung in voller Breite die Nacht der Nächte. "Die Berliner Mauer wankt", steht auf Seite 1. Sie wankt nur. Fällt sie nicht? Ja, vielleicht war da ein Restzweifel. "Wir haben es wohl nicht alle gleich richtig begriffen", erinnert sich Kirch. "Ich dachte, die DDR besteht noch zehn Jahre weiter." Trotzdem: vier ganze Seiten voller Tränen- und Hurra- Nachrichten, Verunsicherung überwinden. "Wir waren ängstlich, dass diese friedliche Volksbewegung nicht doch noch gewaltsam gestoppt werden könnte", stellt die damalige Lokalredakteurin Petra Nossek-Bock fest.
Chefredakteur Gustav Roeder begann seinen XXL-Leitartikel namens "November-Revolution" so: "Es fällt schwer, noch weiterzuatmen, wenn die Geschichte atemlos wird." Roeder begräbt die DDR („der Versuch, einen Staat auf einem leninistischen Denkfehler aufzubauen“), auch wenn er eine Wiedervereinigung noch nicht erwähnt. Und er blickt optimistisch weit voraus. Jetzt wackle der Warschauer Pakt, ganz Europa stelle sich nach diesem historischen 9. November verändert dar. "Jetzt heißt es, auf unserer Seite offen zu sein für alle Möglichkeiten." Auch Kommentator Rhomberg schlug dann am 13. November übrigens euphorische Töne an. Man müsse in der DDR die Chance sehen, nicht das Risiko, "gesamtdeutsch denken". Das passte zum Wetter, das genau nach dem Mauerfall plötzlich auf goldenen Herbst umschwenkte.
Im Nürnberg-Teil der NZ mussten die Kollegen in den folgenden zwei Wochen noch mehr unter dem Diktat der Uhr und der Spontaneität arbeiten. "Für mich war es beruflich die einprägsamste Zeit in 30 Jahren", sagt Petra Nossek-Bock. Denn Nordbayern bekam eine große Besucherwelle aus Thüringen und Sachsen ab. "Sie haben einfach die Stadt geflutet", sagt die Redakteurin. 10.000 am ersten Wochenende. 40.000 am zweiten. Kolonnen von Trabants und Wartburgs parkten die Altstadt zu.
Nürnberg organisierte Schlafplatzbörsen
Der Begrüßungsgeld-Kasse im Sozialamt am Kirchenweg ging zeitweise das Bargeld aus. Die Ostbürger durften kostenlos mit der VAG fahren, sie inspizierten Ananas in der "Kaufhalle", kauften aber zunächst weniger ein, als es den Geschäftsleuten lieb gewesen wäre. Es beeindrucke sie bis heute, erzählt Nossek-Bock, wie gut vorbereitet die Hilfsorganisationen mit ihren Suppenküchen waren. "Es war ein sympathisches Zusammentreffen der Kulturen", resümiert sie. "Beide Seiten waren überrascht, aber voller guten Willens."
Zum Lokaljournalismus gehört, die real existierende Meinungsvielfalt abzubilden. Ja, es gab aufkeimenden Sozialneid in Straßenumfragen. Miesepeter, die im Stadtrat vor der Luftverschmutzung durch die "fahrbaren Stinkbomben" warnten. Es gab Kleinkrämer, die das Obst verteuerten, es gab großzügige Wirte, die Brotzeiten verschenkten. An der Lorenzer Straße klemmte ein Spaßvogel Bananen unter Trabi- Scheibenwischer. Die Polizei musste sich rechtfertigen, dass sie zunächst Strafzettel verteilte, wo doch die DDR-Besucher freundlich empfangen werden sollten. Die Stadt Nürnberg organisierte Schlafplatzbörsen, und der 1. FCN lud die Partnerstadt Gera mit 10 000 Freikarten zum Clubspiel ein. 15. November: "Feldbetten ausverkauft". 16. November: Anzeigenkunden wittern Geschäfte. Elektro-Wunderland wirbt mit einem Trabi-Foto für ein mobiles Telefon ("Eine Handvoll Freiheit") und ein Autoradio ("Der Klang des goldenen Westens"). 17. November: "Verwilderung der Verkehrssitten".
Viel Exotik verbreitet diese November-Chronik und eigentlich nicht die Erkenntnis, dass sich hier der 40 Jahre alte Nachbarstaat im Zusammenbruch befand. Die Tragweite von Zeitgeschichte erschließt sich erst im Rückblick, auch für Journalisten.
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