Kalenderblatt
4. Januar 1972: Hippie-Freuden in Hellas
4.1.2022, 07:00 UhrDer Bremer Gastregisseur Alfred Kirchner putschte die „Schöne Helena“ zum dreidimensionalen Bühnenspektakel auf, zum pausenlosen Witz auf Götter, Griechen und Gegenwärtige. Anders als Günther Büch bei der „Helena“'-Bearbeitung von Peter Hacks nebenan im Schauspielhaus blieb Kirchner der Operette treu. Offene Türen also für Parodie, Ulk, turbulente szenische Aktion. Nur alles einige Stiletagen höher transportiert. Operette als ästhetisches Vergnügen, leichte Muse ohne Hautgout. Der aus Bremen mit angereiste Jungszeniker Erich Wonder hielt das höhere Niveau dem Publikum plastisch vor die Nase. Die Göttinnen wurden zum Paris-Urteil auf Beletage-Höhe eingeschwebt. Venus (verkörpert von der Schönen „Daisy“) strippte hautnah und busenfrei überm Parkett. Die aufwendige Stahlkonstruktion machte mit ihren Karussellgondeln Spartas Helden zu komischen Fußgängern der Luft. Paris entführte Helena als tollkühner Mann in der fliegenden Kiste. Aufhebung der Bühnenschwerkraft als ironisch-szenische Übersetzung des Begriffs „leichte Muse“:
Kirchner führte die Idee in der heißlaufenden Versenkung weiter, in der singende Köpfe, empörte Zeigefinger, griechische Orgiastiker auf und ab schwebten. Helena verteidigte ihre Tugend dazu auf einem unsicheren Fahrstuhlpodest, die Griechinnen klagten ihre abgeschafften Männer vor den ersten Geigen im Orchester an. Erich Wonders Bühne zwang die dreidimensionale Persiflage in einen Raum von kühler Eleganz. Im blauen Neonlicht grüßte von ferne Wilfried Minks. Weißes Gipsgebirge wurde zusammen mit einem rot angestrahlten Sparta-Prospekt zum Bildkürzel für Griechenland. Riesige blau-lila Schleiersegel unterkühlten die Schlafzimmer-Pikanterie. Offenbach als Genie der Stilbrechungen wurde wieder einmal entdeckt. Die Heutigen in antike Krieger zu verwandeln, sie damit beide lächerlich zu machen: Kirchner gelang es pausenlos. Spartas König Menelaus wurde ihm zum Abbild eines sauerländischen Bundespräsidenten, Orest zum blumenbehängten Hippie, Agamemnon zum verkalkten Eisenfresser, der Großaugur zum Quizmaster mit faulem Zauber und noch fauleren Witzen.
Die Gesellschaftssatire, die Offenbach unter der Toga versteckt, wurde in Kirchners Wonder-Welt dagegen nicht eingelassen. Die Text-Neubearbeitung (Robert Gernhardt, Bernd Eilert) unterstrich – stellenweise noch zu Wortreich – die Ansicht vom witzigen, unterhaltsamen Volkstheater. Kirchners Prä-zisionsmechanik der szenischen und kabarettistischen Gags kam ohne den eigentlichen Antrieb des Stücks, die Erotik, aus. Trotz erkämpfter Textilarmut knisterte davon in der Sex-Schau des virtuos arrangierten Bacchanals, in den teiloriginellen Ballett-Einlagen (Hildegard Krämer) nur wenig. Dem Dirigenten Helmut Breidenstein (der auch die üblichen Arrangements lieferte) hörte man seine Nürnberger Premiere an Verständigungsschwierigkeiten mit Adam Rauhs vielbeschäftigtem Chor an. Das scheppernde Terzett der drei Göttinnen (Lucretia Popescu, Dunja Vejzovic, Marita Kral) war zwar weder seine noch der Sängerinnen Schuld, sondern die der miesen Lautsprecheranlage. Doch gab der nur selten moussierende, oft bieder taktierte Orchesterklang auch nicht Berechtigung genug, den eigentlichen Nürnberger Operettenkapellmeister spazieren gehen zu lassen. – Allerdings: Kirchners optische Offenbachiade ließ vor lauter Sehen das Hören vergehen.
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