Anleitung zum Fremdgehen
22.2.2012, 08:00 UhrMatze, 23 Jahre alt und Schreinerlehrling, weiß genau, was Vorurteile sind: „Wenn ich auf einer Party erzähle, dass ich Schreinerlehrling bin, werde ich sofort in eine Schublade gesteckt“, berichtet er. So etwas frustriert ihn. Matze hat Abitur gemacht, zu studieren begonnen und sich dann erst für eine Ausbildung entschieden. Er ist einer von neun Berufschülern, die sich an diesem Morgen mit Vorurteilen auseinandergesetzt haben — im Rahmen eines Seminars mit dem Titel „Anleitung zum Fremdgehen“.
In 90 Minuten sollten die Schüler dabei offener für Fremdes werden. Studenten aus Passau haben dafür ein Konzept entwickelt, mit dem sie seit acht Jahren an Haupt- und Berufsschulen arbeiten. Nun waren sie zum ersten Mal in Nürnberg und schulten 13 Klassen der Schule für Bau-, Maler- und Holzberufe in der Deumentenstraße. „Das Ziel von uns Fremdgängern ist es, Denkanstöße zu geben“, sagt Debora Graf, die das Seminar zusammen mit Sara König leitete. Graf wünscht sich, dass die Schüler ohne Vorbehalte auf Fremdes zugehen und für das Thema Vorurteile sensibilisiert werden. Denn Fremdes findet sich in jedem Alltag: Sei es der erste Tag an der Berufsschule, der Kontakt mit Ausländern oder exotisches Essen.
In der ersten von insgesamt fünf Stationen des Lernparcours schätzten sich die Schüler gegenseitig ein. Schnell merkten die Schreinerlehrlinge, wie unangenehm es ist, von anderen anhand von Äußerlichkeiten beurteilt zu werden. In der zweiten Station spielte sich eine merkwürdige Szene ab. Die beiden Studentinnen unterhielten sich in einer Fantasiesprache, die nur aus dem Laut „ma“ bestand. Belustigt beobachteten die Schreinerlehrlinge sie zunächst, erkannten aber schnell, dass Sprache nicht das einzige Kommunikationsmittel ist. Denn die nonverbale Kommunikation, zu der auch Mimik, Gestik oder Tonlage gehören, macht mehr als 70 Prozent unserer Kommunikation aus.
Neues entdecken
„Unsere Schule ist ein Auffangbecken für viele Schüler, die in anderen Branchen keine Chance bekommen“, berichtet Berufsschulleiter Michael Adamczewski. Viele Schüler seien sozial benachteiligt. Gerade diese Schüler müssten lernen, dass das Fremde die Gesellschaft bereichert.
Das sollte auch an einem praktischen Beispiel gezeigt werden. Dafür legten sich die Schüler im Klassenzimmer auf Matratzen. Diese standen symbolisch für eine sogenannte Komfortzone, also für einen Bereich, den man kennt und in dem man sich wohlfühlt.
Genau diese Komfortzone mussten die Schreinerlehrlinge aber verlassen, um etwas Neues zu entdecken. Matze fiel dazu gleich eine passende Situation aus seinem Leben ein: sein erster Tag an der Berufsschule.
Er kannte seine Mitschüler noch nicht, hatte Vorurteile und fühlte sich nicht ganz wohl. „Aber nach zwei, drei Wochen war alles ganz normal für mich“, erzählte er. Denn Matze hat sich in der Schule eingelebt — inzwischen ist auch dieser Lebensbereich für ihn zur Komfortzone geworden.
Gegen Ende des Lernparcours ließen sich die Schüler Kumquats, Sternenfrucht oder Mango schmecken. Sie merkten, dass es sich lohnt, das Obst, das sie zum Teil vorher nicht kannten, zu kosten. Matze aß ein Stück Papaya, dann zog er sein Fazit über den Kurs. „Anfangs dachte ich: So etwas brauche ich doch nicht“, erzählte er. „Aber erst im Kurs habe ich gemerkt, dass ich selbst Vorurteile habe.“ Aus dem Seminar nimmt er mit, wie wichtig es ist, sich in andere hineinzuversetzen und mit vorschnellen Urteilen vorsichtig zu sein. Denn Vorurteile können verletzen. Da konnte ihm Mitschüler Marcel nur zustimmen: Er nimmt sich vor, in Zukunft offener auf Menschen zuzugehen.
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