Auf das Neugeborene wartet schon das Jugendamt
25.8.2018, 08:00 UhrCarina (alle Namen geändert) ist in der 36. Schwangerschaftswoche, groß ist ihr Bauch noch nicht. Es werde ein kleines Kind, sagt sie, vielleicht 2000 Gramm schwer. Es habe aufgehört zu wachsen, fährt sie fort. Das Baby halte den Stress nicht mehr aus.
Dass sie schwanger ist, hat Carina erst im fünften Monat bemerkt. Es ist eine Risikoschwangerschaft, obwohl die werdende Mutter erst 18 Jahre alt ist. Sie klagt über vorzeitige Wehen, berichtet von unregelmäßigen Herztönen beim Ungeborenen. Mehrmals musste Carina in die Klinik Hallerwiese, wo das Kind im September zur Welt kommen soll. Mehrmals hat sie das Krankenhaus gegen den ärztlichen Rat wieder verlassen.
Carina sitzt auf der Couch in der elterlichen Vierzimmerwohnung in einem heruntergekommenem Altbau, wo sie noch lebt. Die Fenster stehen offen, draußen tost der Verkehr. Carina, eine kindlich wirkende 18-Jährige, soll sich schonen, um ihres Babys willen. Es riecht nach Zigaretten. Sie rauche nur noch ganz wenig, sagt sie.
Klaus Meyer, ihr Vater, stützt den Kopf auf die Hand. Als er erzählt, spricht er vom "Sachverhalt". Die Familie kennt sich aus mit Amtsdeutsch, sie lebt vom Jobcenter und von Pflegegeld, weil einige Kinder eine Behinderung haben. Auch Carina gilt als lernbehindert. Ihre Mutter hat während der Schwangerschaft getrunken. Die 18-Jährige kann deshalb kaum lesen und schreiben. Doch trotz Schulpflicht besucht sie seit zwei Jahren das Förderzentrum nicht mehr.
"Eine Frechheit"
Carinas Mutter breitet Briefe vom Jugendamt, von Anwälten und vom Gericht vor der Journalistin aus. Auf ihre Arme hat sich Birgit Meyer groß die Namen ihrer Kinder tätowieren lassen. Strähnige Haare fallen ihr ins Gesicht. Sie habe neun Kinder, sei 36 Jahre verheiratet, "und jetzt sagen die, dass ich nicht geeignet bin. Eine Frechheit", schimpft die 54-Jährige.
Sie beteuert, ihrer Tochter beim Großziehen des Babys helfen zu wollen. Doch das Jugendamt will nicht mitmachen. Es spricht sowohl der werdenden Mutter als auch der Großmutter die Fähigkeit ab, sich um das Neugeborene zu kümmern. Birgit Meyer habe nicht die Kraft und Gesundheit dafür und sei seit vielen Jahren überfordert mit der Haushaltsführung und der Erziehung ihrer eigenen Kinder, heißt es in einer Stellungnahme. Birgit Meyer hat ihre eigene Erklärung für die Haltung des Amts: "Die Frau vom Jugendamt will jetzt das Kind von der Carina holen, weil sie meine Kinder nicht bekommen hat."
Die Frau vom Amt, das ist eine Mitarbeiterin des Allgemeinen Sozialdienstes (ASD). Sie geht seit Jahren bei den Meyers ein und aus. Das Verhältnis ist schwierig. Die Familie hat wiederholt Hilfen zur Erziehung erhalten, nach Ansicht des Jugendamts ohne nachhaltigen Erfolg. Die Stellungnahmen lesen sich so, als habe man die Familie abgeschrieben. Die Meyers gelten als beratungsresistent und nicht bereit zu kooperieren.
Carina lebe in einem verwahrlosten Haushalt. Bei unangemeldeten Hausbesuchen seien die Wohnung und speziell Carinas Zimmer in einem stark verschmutzten Zustand angetroffen worden. Die junge Schwangere schlafe in einem verdreckten Bett ohne Bettzeug. Im Kleiderschrank herrsche Chaos. Es liege Müll auf dem Fußboden, an den Wänden befänden sich Spinnweben. Das Katzenklo sei permanent mit Kot verdreckt. Die gesamte Familie habe sehr oft Magen-Darm-Erkrankungen, die auf mangelnde Hygiene in der Wohnung und bei der Essenszubereitung zurückzuführen seien. Die Zimmer seien stark verqualmt.
All das listet das Jugendamt auf. Birgit Meyer lässt einen den Brief, in dem es um die Zukunft des Ungeborenen geht, bereitwillig lesen. Er endet mit dem Fazit der Behörde: "Das Kindeswohl ist unserer Einschätzung nach bei einem Verbleib bei der jungen Mutter nach der Geburt erheblich gefährdet. Ein Sorgerechtsentzug erscheint uns als die geeignete Maßnahme, um das Kindeswohl sicherzustellen."
Klinik zeigte Gefährdung an
Es muss viel zusammenkommen, bis das Jugendamt ein Kind in Obhut nehmen will, zumal wenn es um das Baby einer Erstgebärenden geht. Dass das Gericht bereits über das Schicksal eines Ungeborenen entscheiden muss, passiert etwa zehn Mal im Jahr, sagt Frank Schmidt, Vizechef des Jugendamts. Es seien Fälle, in denen der ASD schon während der Schwangerschaft erkenne, dass die Mutter nach der Entbindung völlig überfordert sein werde. Im Fall Carina zeigte auch die Klinik Hallerwiese eine Kindeswohlgefährdung an: Das Erscheinungsbild wirke verwahrlost. Mutter und Tochter hielten sich nicht an Vorgaben der Station. Die Kindsmutter sei abhängig von ihrer Mutter. Die Bereitschaft, im Sinne des Kindeswohls mitzuarbeiten, scheint nicht vorhanden.
Dabei "ist unser primäres Ziel, die familiären Strukturen zu erhalten und sicherzustellen, dass die Familie zusammenbleiben kann", so Schmidt vom Jugendamt. Doch auch ein Mutter-Kind-Haus lehnt Carina ab. "Ich will nicht dahin", sagt sie, weil der nächstliegende Platz in Chemnitz wäre. In der Region gibt es keine Einrichtung, die Mütter mit geistiger Behinderung aufnimmt. Schmidt kritisiert, dass die Behinderung hier ein grundsätzliches Ausschlusskriterium ist.
Auch Birgit Meyer lehnt die Idee, ihre Tochter könnte mit dem Enkelkind in Chemnitz leben, rundweg ab. "Wir tanzen nicht nach der Pfeife von der Frau vom Jugendamt", sagt sie. Man habe das elterliche Schlafzimmer hergerichtet für Carina und das Baby. Dort steht jetzt ein neues Gitterbett mit Stofftier. Nebenan, im Bad, ist die Kloschüssel defekt. In der Küche stapelt sich Wäsche. Der Balkon ist mit Sperrmüll vollgestellt.
Das Neugeborene wird nicht im vorbereiteten Bettchen schlafen. Das Gericht hat entschieden: Das Kind wird von der Stadt in Obhut genommen. Carina darf es nach der Entbindung in der Klinik füttern und wickeln. Doch sobald die Entlassung ansteht, kommt das Baby in eine Pflegefamilie.
"Der Kindesentzug ist die Ultima Ratio", sagt Tina Haase, stellvertretende Justizsprecherin. Das letzte Mittel.
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