Ausflug in eine heile Welt am Rande der City

22.9.2020, 19:04 Uhr
Ländliches Idyll hinter dem Nürnberger Wahrzeichen: die Villa Eckart mit Bauerngehöften und Kaiserburg auf einer zwischen 1865 und 1872 geschaffenen Federzeichnung. 

© Zeichnung: Heinrich Grünewald (Sammlung Sebastian Gulden) Ländliches Idyll hinter dem Nürnberger Wahrzeichen: die Villa Eckart mit Bauerngehöften und Kaiserburg auf einer zwischen 1865 und 1872 geschaffenen Federzeichnung. 

Sie ahnen ja nicht, wie gut man selbst alteingesessene Nürnbergerinnen und Nürnberger mit der historischen Zeichnung, die wir Ihnen heute zeigen, verwirren kann! Allzu leicht verleitet einen die Kaiserburg im Hintergrund zu der Annahme, diese Ansicht doch von irgendwoher zu kennen.

Das Motiv entführt uns in die scheinbar heile, beschauliche Welt der Zeit um 1870. Eine Familie, die Dame im Reifrock, mit Haube und Sonnenschirm, der Herr im Frack mit Zylinder, vier Kinder, das Nesthäkchen noch im Kinderwagen, der Sohnemann eifrig mit dem Familienhund beschäftigt, sind auf dem Wege stadtauswärts – wir dürfen vermuten, auf einer sonntäglichen Landpartie in eines der beliebten Gasthäuser im Knoblauchsland, zum "Goldnen Stern" in Buch oder zum "Lutzgarten" in Großreuth. Hinter ihnen fährt ein Ehepaar auf einer Kutsche heran, die von zwei Pferden gezogen wird. Die zwei haben’s offenbar ein wenig eiliger. Ein Bildpersonal, als sei es aus "Unsere kleine Farm" entsprungen!

Sie vermuten es vielleicht schon: Wir befinden uns auf der Pilotystraße, und zwar auf dem Teilstück zwischen Pirckheimer- und Archivstraße. Damals hieß die Straße noch, weil vom Vestnertorgraben abzweigend, "Nebengasse". Erst 1906 hat man sie auf Drängen von Anwohnern, die nicht mehr nur daneben, sondern mittendrin sein wollten, nach dem Maler Carl Theodor von Piloty (1826–1886) umbenannt.

Treppenhaus mit kleinem Ausguck

Heute haben Verstädterung und Nachverdichtung das Idyll in eine moderne Stadtlandschaft verwandelt. Eine gewaltige Wohnanlage hat die alte Villa und ihre Nachbarn abgelöst.

Heute haben Verstädterung und Nachverdichtung das Idyll in eine moderne Stadtlandschaft verwandelt. Eine gewaltige Wohnanlage hat die alte Villa und ihre Nachbarn abgelöst. © Foto: Sebastian Gulden

Die imposante Villa mit Pfeilerzaun (ehemals Nebengasse 123c, später Pilotystraße 26), an dem unsere Sonntagsspaziergänger vorbeiflanieren, ist ein wunderbares Beispiel des "Maximilianstils", der in den 1840er Jahren von München ausgehend im Mode gekommen war. Seine erst viel später gemünzte Bezeichnung rührt von dem bayerischen König Maximilian II. her, dessen Begeisterung für die italienische Renaissance, die Gotik und Romanik in die neue Stilrichtung eingeflossen waren. Der Turm an der Nordseite des Hauses enthielt das Treppenhaus und im obersten, in Fachwerkbauweise errichteten Geschoss einen Ausguck.

Beton ersetzt Idyll

Erbauen ließ die Villa der Pharmazeut Karl Ludwig Ernst Eckart (1830–1911) im Jahre 1865, vermutlich nach Plan eines örtlichen Maurermeisters, dessen Namen wir bislang nicht kennen. Eckart hatte 1856 zusammen mit seinem Compagnon Adolph Rosenhauer die Spitalapotheke an der Museumsbrücke übernommen. Dass seine Kundinnen und Kunden ihn meist nur "Herr Rat" nannten, verdankte er seinem hohen Ansehen sowie der Tatsache, dass ihn die Nürnberger – obwohl ein "Zugereister" aus Emskirchen – 1869 in den städtischen Magistrat gewählt hatten. Mit dem Büchlein "Rat Eckarts goldene Gesundheitsregeln für ein vernunftgemäßes Leben" veröffentlichte er eine Art Frühform der "Apotheken-Umschau", die bei seiner Kundschaft reißenden Absatz fand.

Stadt ist kein Wohnautomat

Ausflug in eine heile Welt am Rande der City

© Foto: Süddeutscher Verlag (Sammlung Werner Jülka)

Von der heilen Welt von einst ist nur Nürnbergs Wahrzeichen, die Burg, geblieben. Und selbst sie ist in ihrer heutigen Form ein Werk des Wiederaufbaus nach den Verheerungen des Zweiten Weltkrieges. Schon viel früher, nämlich in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, fielen die Bauernhöfe im Mittelgrund der beiden alten Ansichten dem Bau der Pirckheimerstraße und der Nachverdichtung anheim.

Und die Villa Eckart? Der setzten erst die Bomben des Zweiten Weltkrieges und dann 1958 ein Brand zu. Schließlich war das altehrwürdige Anwesen derart ruiniert, dass es die Gemeinnützige Deutsche Wohnungsbaugesellschaft 1969–1971 für eine Wohnanlage plattmachte. Wo einst Landidyll herrschte, regiert nun der Beton. Eckarts "Spitalapotheke", obschon nach dem Krieg neu gebaut, gibt es noch heute – und sie ist noch immer in Familienbesitz. Unser Bildvergleich ist zugegebenermaßen schwere Kost. Doch er zeigt, wenn auch drastisch, wozu das Mantra vom "Bauen, bauen, bauen" ohne Rücksicht auf Verluste führt. Eine Stadt ist keine Wohnautomat, sondern ein lebendiger Organismus, der, um lebenswert zu sein, viel mehr Bedürfnisse befriedigen muss als nur Verkehrswege und ein Dach über dem Kopf.

Übrigens: Die historische Zeichnung und viele weitere Panoramen und Ansichten von Nürnberg können Sie noch bis 18. Oktober 2020 in der Sonderausstellung "Der weite Blick" im Stadtmuseum Fembohaus sehen (siehe Artikel unten auf der Seite).

Liebe NZ-Leser, haben Sie auch noch alte Fotos von Ansichten aus der Region? Dann schicken Sie sie uns bitte zu. Wir machen ein aktuelles Foto und erzählen die Geschichte dazu. Per Post: Nürnberger Zeitung, Marienstraße 9, 90402 Nürnberg; per E-Mail: nz-leseraktion@pressenetz.de.

Noch mehr Artikel des Projekts "Nürnberg – Stadtbild im Wandel" finden Sie im Internet unter www.nuernberg-und-so.de/thema/stadtbild-im-wandel oder www.facebook.com/nuernberg.stadtbildimwandel.

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