Chemtrails: Vom Kondensstreifen zur Weltverschwörung
20.4.2015, 11:08 UhrDeutlich zeichnen sich am 14. April die Türme der Lorenzkirche vor dem fränkischen Sonnenuntergang ab. Der Himmel ist leicht bewölkt, einige Kondensstreifen sind zu sehen. Ein schöner, gar beeindruckender Anblick? Als das Bild auf dem Facebook-Account der Nürnberger Zeitung gepostet wird, dauert es nicht lange, bis aus der Begeisterung über das Bild Empörung wird.
"Chemtrails .. eindeutig", schreibt ein User bereits nach wenigen Minuten - Auftakt zu einem regelrechten Trommelfeuer. "IHR PACK VON DEN MEDIEN SEID DIE SCHLIMMSTEN,LAKAIEN DER 1%, DABEI WERDET IHR AUCH VERGIFTET" gehört dabei noch zu den harmloseren Kommentaren. Auch von der Lügenpresse ist die Rede. Über mehrere Tage hinweg macht eine Vielzahl von Facebook-Usern ihrer Empörung Luft.
Grund ist eine Verschwörungstheorie, die seit Mitte der 1990er Jahre im Internet kursiert und dort mittlerweile zu den bekanntesten gehört: Die Anhänger dieser Theorie sind überzeugt davon, dass Verkehrsflugzeuge benutzt werden, um Chemikalien in der Atmosphäre zu versprühen. Sichtbares Indiz sollen Kondensstreifen sein, die sich langsamer auflösen als andere. Das Kunstwort "Chemtrail" setzt sich hierbei aus den englischen Worten für Chemie und Kondensstreifen ("contrail") zusammen.
Schleichende Vergiftung der Menschheit
So populär die Theorie auch ist, so uneinig ist sich die Verschwörungsszene über die Hintergründe. Die vermuteten Motive reichen von der Veränderung des Klimas (= Geoengineering, das zwar technisch vorstellbar, bislang aber nur ein theoretischer Ansatz ist) über Gedankenkontrolle, das Erlangen der Weltherrschaft, die Vernichtung natürlichen Saatgutes, die Verdunklung der Sonne, die Einschränkung der Zeugungsfähigkeit bis hin zur schleichenden Vergiftung der Menschheit.
Auch die Zusammensetzung der angeblich versprühten Chemikalien variiert: Meist soll es sich Aluminiumverbindungen handeln, mal um Barium oder Strontium, mal um alles zusammen. Verbreitet wird der Cocktail nach Ansicht der Szene als Bestandteil des Treibstoffs oder über separate Sprüh-Vorrichtungen, meist an Verkehrsflugzeugen. Die Hintermänner dieser gigantischen Verschwörung: unbekannt.
Kein einziger belastbarer Beweis
Während es keinen einzigen belastbaren Beweis für die Existenz von Chemtrails gibt und sich auch angebliche "Beweisfotos" meist schnell entkräften lassen, gibt es dagegen eine sehr einfache wissenschaftliche Erklärungen für langlebige Kondensstreifen: Unter kalten und feuchten klimatischen Bedingungen lagern sich an den Rußpartikeln der Flugzeug-Abgase Wassermoleküle an, die schließlich zu Eiskristallen gefrieren. Bei Windstille kann es mehrere Stunden dauern, bis sich die auf diese Weise entstandenen Streifen wieder aufgelöst haben.
Auch ansonsten hält die Theorie keiner logischen Herangehensweise stand, und das nicht nur, weil weltweit zehn-, wenn nicht gar hunderttausende Menschen eingeweiht sein müssten - von den Urhebern bis hin zu Piloten und Bodenpersonal von Flughäfen. Auch zahlreiche staatliche Institutionen haben mittlerweile zu dem Phänomen Stellung bezogen und Chemtrails als reine Fiktion bezeichnet.
Das von den Anhängern der Verschwörung gerne genannte Argument, früher habe der Himmel anders ausgesehen, ist dagegen durchaus richtig - allerdings liegt das vermehrte Auftreten von Kondensstreifen schlicht daran, dass sich die Anzahl der Flüge in den letzten Jahrzehnten vervielfacht hat.
Das Praktische an Verschwörungstheorien ist jedoch, dass sie keine Beweise brauchen und für ihre Anhänger nicht widerlegt werden können. Im Gegenteil: Wissenschaftliche Gegenbeweise, wie fundiert und zahlreich sie auch sind, haben den paradoxen Effekt, dass sie den Glauben an die Verschwörung sogar noch stärken - schließlich gehören die entsprechenden wissenschaftlichen Institute automatisch zum Kreis der Mitverschwörer. Ebenso wie die etablierten Medien natürlich, die sich nach Ansicht der Chemtrail-Anhänger nach wie vor standhaft weigern, über die skandalösen Vorgänge am Himmel zu berichten.
Und so bleibt manchmal einfach nur noch Fassungslosigkeit. "Man kann nur hoffen, dass die ganzen Kommentare hier ironisch / sarkastisch sind...", schreibt ein Nutzer unter das Bild, nachdem wieder etwas Ruhe eingekehrt ist. Die Antwort kommt allerdings prompt: "Was soll an Chemtrails ironisch/sarkastisch sein?? Wach auf du Schlafschaf!!"
22 Kommentare
Um selbst einen Kommentar abgeben zu können, müssen Sie sich einloggen oder sich vorher registrieren.
0/1000 Zeichen