Intensivpfleger arbeiten am Limit
Corona-Patienten: "Man sieht die Angst in ihren Augen"
18.11.2021, 05:55 UhrJeder Schritt muss sitzen. Deshalb haben sie hier jeden einzelnen Handgriff aufgeschrieben und die Anweisung mit Klebestreifen auf dem Boden fixiert. "Schuhe nehmen", "Schutzbrille aufsetzen", "Maske entsorgen". Neun Punkte umfasst der Plan, und Jelde Fröhlich hat ihn täglich mehrmals vor Augen, auch wenn er die Abfolge mittlerweile längst im Schlaf beherrscht. Es sind die Schritte, die der 33-Jährige einhalten muss, wenn er die Schleuse zum Isolierbereich der Intensivstation 10.2 betritt oder verlässt.
Die Mitarbeiter haben ein Zimmer zum Umkleidebereich umfunktioniert, hier ziehen sie die komplette Schutzausrüstung an, in der sie sich um die Corona-Patienten kümmern. 16 schwer kranke Menschen liegen in den beiden Bereichen zurzeit, sie sind zwischen 30 und 80 Jahre alt und ihre Versorgung fordert allen Beteiligten ein Höchstmaß an Sorgfalt ab. Mindestens zwei Mal für jeweils drei Stunden arbeitet Fröhlich während seiner Schichten "im Bereich", wie sie den Isoliertrakt hier nennen, manchmal kommt er während der Arbeitszeit gar nicht wieder heraus.
Nicht essen, nicht trinken
"Im Bereich", das heißt für Fröhlich auch: Nicht essen, nicht trinken und nicht auf die Toilette gehen, denn das alles lässt die Arbeit in der Schutzkleidung nicht zu. "Es ist eine Belastung, die man verdrängt", sagt der Pfleger, der sich dann manchmal "wie im Tunnel" fühlt. Mitten in der Pandemie ist er zum Nürnberger Team gestoßen. Zuvor war der Fachkrankenpfleger für Intensivpflege in Köln im Einsatz, hat auch dort schwer kranke Covid-Patienten betreut. Er ist spezialisiert auf die Pflege an der Ecmo, einer Herz-Lungen-Maschine, die derzeit das letzte technische Mittel in der Versorgung der Kranken ist.
Doch auch zuvor hängt das Leben der Betroffenen an Apparaten, bis zu 15 Schläuche allein für Infusionen hat der pflegerische Leiter der Intensivstation, Klaus Eichenmüller, gezählt, hinzu kommen Geräte wie die Ecmo, eine Dialyse oder ein Beatmungsgerät. Deren Funktionsweise zu überwachen, das ist eine der Hauptaufgaben des Teams.
Nur das Nötigste mitnehmen
"Sicherheit ist das A und O", betont Fröhlich. Jeder Einsatz "im Bereich" müsse exakt geplant sein, "wir können schließlich nur das Nötigste mitnehmen". Hinzu komme die pflegerische Versorgung, auch sie ist wegen der vielen Technik teilweise kompliziert. 30 bis 45 Minuten kann es dauern, mit Unterstützung von bis zu fünf Kollegen einen Patienten in Bauchlage zu betten, die sich als hilfreich in der Therapie erwiesen hat. Wie personalintensiv die Versorgung ist, zeigt eine weitere Zahl: Um gerade mal zwei Patienten kann sich ein Pfleger während seiner Schicht kümmern. Dadurch steigt auch die Arbeitsbelastung für alle anderen, fallen Überstunden oder Zusatzschichten an.
"Die Patienten sehen oft niemanden außer uns"
Zu der körperlichen Belastung kommt die emotionale Herausforderung. "Die Patienten sehen oft niemanden außer uns", sagt Fröhlich. Nur in Ausnahmefällen, wenn die Kranken besonders davon profitieren oder "wenn es sehr schlimm ist", dürfen Bezugspersonen in voller Montur ans Bett. "Für uns ist es belastend, dass wir die Angehörigen teilweise nur übers Telefon kennlernen", sagt Fröhlich. Deshalb arbeitet das Team, unterstützt von der Krankenhausseelsorge, auch mit Videocalls. Oft gehe es darum, ein wenig Nähe zu vermitteln, zu zeigen, dass jemand da ist - eine Aufgabe, die sonst oft Familie oder Freunde übernehmen.
"Die Leute hier haben traumatisierende Erlebnisse", sagt Stationsleiter Eichenmüller. Sein Team muss häufig miterleben, wie Menschen, die bald beatmet werden, sich vorsorglich von ihren Angehörigen verabschieden, weil sie wissen, dass mit der Intubation die Überlebenswahrscheinlichkeit sinkt.
"Es hat sich herumgesprochen"
"Wir sehen die Angst in ihren Augen", sagt Eichenmüller. "Mittlerweile hat sich herumgesprochen, was für eine grausame Erkrankung das ist." Erst vor wenigen Tagen sei ein zuvor gesunder Mittdreißiger gestorben, auch Mitarbeiter erlagen der Erkrankung. Ob sie selber Angst haben? "Wir wissen, dass wir hier relativ gut aufgehoben sind", sagt Eichenmüller. Das Team profitiere davon, dass es für den Umgang mit Ebola geschult wurde, damals wurde ein Hygienekonzept mit strikter Trennung der An- und Auskleidebereiche entwickelt. Zudem können sich die Mitarbeiter seit Beginn der Pandemie täglich testen lassen.
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Trotz aller Belastung sind Eichenmüller und Fröhlich gerne in ihrem Beruf. Doch damit das für sie und andere auch so bleiben kann, haben sie Forderungen. Dazu gehört die nach einer psychosozialen Betreuung des Personals. Die gibt es in Nürnberg zwar, in Zusammenarbeit mit der Klinik für Psychosomatik und der Krankenhausseelsorge. Doch eine Finanzierung sei dafür nicht vorgesehen, kritisiert Eichenmüller. "Wir haben diese Lösung selbst gestrickt."
Auf Dauer kaum zu schaffen
Zudem müsse man den jungen Leuten Perspektiven bieten, damit sie den Beruf wählen und auch dabei bleiben. Dabei gehe es um die Bezahlung, aber auch um Arbeitszeiten und inhaltliche Weiterentwicklung, etwa durch eine Spezialisierung, so der 62-Jährige. Helfen könne zudem ein früherer Rentenbeginn, weil das Arbeiten im Drei-Schicht-Betrieb so kräftezehrend sei, dass viele Kollegen das nicht auf Dauer durchhalten. Noch sei seine Station relativ gut durch die Krise gekommen, "wir haben mehr Bewerbungen bekommen als Leute verloren". Doch er befürchte, dass sich das unter der anhaltenden Belastung ändern könne. Anderswo liege die Kündigungsrate zwischen 20 und 35 Prozent.
Denn noch steigen die Zahlen, mittlerweile muss das Klinikum nicht dringliche stationäre Behandlungen verschieben, um weitere Kapazitäten für die Versorgung der Corona-Patienten zu schaffen. Viele von ihnen sind ungeimpft, doch das spiele in der Behandlung keine Rolle, stellen Eichenmüller und Fröhlich klar. "Am Bett ist der Impfstatus unerheblich", sagt Fröhlich. "Die Behandlung ist für alle dieselbe."
Die Ursache der Behandlung dürfe keine Rolle spielen, sagt auch Eichenmüller. Privat sei er manchmal jedoch schon wütend, "dass die eigene Lebensqualität immer noch so eingeschränkt ist", obwohl das in dem Ausmaß wahrscheinlich nicht mehr nötig wäre. "Eine höhere Impfquote käme uns allen zugute." Immerhin: Dass sich Angehörige schwer kranker Patienten doch noch impfen lassen, das hat Eichenmüller in den vergangenen Wochen und Monaten schon häufiger erlebt.