Umstrittener Publizist
Daniele Ganser in Nürnberg: Leiser Protest vor und lauter Beifall in der Meistersingerhalle
10.5.2023, 21:01 UhrSchon weit vor 19 Uhr strömen die Menschen zur Meistersingerhalle. Sie kommen aus ganz Süddeutschland, wie die Autokennzeichen auf dem Parkplatz zeigen. Der Auftritt, zu dem sie anreisten, beginnt erst um 20 Uhr.
Die meisten laufen vorbei am wenig sichtbaren Protest: Es ist nur eine kleine Gruppe, die vor der Meistersingerhalle den Auftritt Daniele Gansers anprangert: "Wir zeigen klare Kante gegen Spalter, Hetzer und Verschwörungserzähler auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände", so nennt die "Allianz gegen Rechtsextremismus" ihre Demo. Vorsitzender Stephan Doll spricht, das Ziel des Protests laute: "Gegen Verschwörung und Antisemitismus, Solidarität mit der Ukraine". Gut zwei Dutzend Protestierende sind dabei. Und auf der anderen Straßenseite trommeln "Gegen-Gegendemonstranten" vom "Team Menschenrechte" (bekannt von den Corona-Protesten) , damit man die "Allianz" weniger hört. Sie zählen zu den Ganser-Fans.
Die "Allianz" nimmt mit ihrem Protest gegen den zunächst von der Stadt untersagten, dann doch genehmigten Auftritt Bezug auf den Titel des Vortrags, mit dem der Schweizer Ganser aktuell in Deutschland, der Schweiz und Österreich auf Tour ist: "Warum ist der Ukraine-Krieg ausgebrochen?", so fragt der Friedensforscher und Historiker, der sehr viel Wert auf seinen Doktor-Titel legt und sehr wenig Wert darauf, dass ihm eine akademische Karriere und damit die Anerkennung von Historikern verwehrt blieb. Dazu sind seine Thesen schon zu lange mindestens einen Tick zu hypothetisch und gewagt - und lassen sich daher durchaus als Verschwörungserzählungen bezeichnen. Raunend deutet der 50-Jährige vieles nur an, belässt es bei Spekulationen oder Fragen. Und er lässt sehr viel weg, was seiner roten Linie widersprechen könnte.
Sein Publikum reagiert begeistert, auch in Nürnberg. Die Stimmung ähnelt mehr einem Popkonzert mit Fans als einem nüchternen Vortrag. Ganser hat respektable Entertainer-Qualitäten. Und er ist ein erfolgreicher Verschwörungs-Unternehmer: Wer regelmäßig Post von ihm möchte oder Antworten auf Mails, kann seinem exklusiven Club beitreten - für einen Euro (pro Tag!) ist man Teil seiner exklusiven Community.
Es gibt Standing Ovations, als Ganser seinen Vortrag beginnt. Er startet mit einem Blick auf Neuronen und menschliche Ängste, empfiehlt mehr Waldspaziergänge statt Bildschirmzeit - als Gegengift gegen die immer neuen Ängste, die zu viele mitmachen - und ist dann schnell bei seinem Haupt-Feindbild, den USA und der Nato. Er verteilt Rote Karten, die erste geht an Putin. Da ist der Applaus eher spärlich. Viel stärker ist er, als Ganser sich gegen Waffenlieferungen ausspricht. Nicht zufällig prangt über der Bühne zum Auftakt des langen Abends eine Friedenstaube. Als Anführerin der Friedensbewegung lobt er Sahra Wagenknecht, die Noch-Linke. Sehr viel Applaus.
Und die anderen Roten Karten, die Oberschiedsrichter Ganser ausgibt? Sie gehen an Olaf Scholz und diverse US-Präsidenten - und dafür klatschen die rund 2000 Gäste in der Meistersingerhalle sehr viel mehr Beifall als für die Mahnung an Putin. Ihn zeichnet Ganser fast durchgehend als Opfer der Nato-Einkreisung. Dass dies nur gelingt, wenn man russische Aggressionen weitgehend ausblendet - das taucht in Gansers Vortrag logischerweise nicht auf.