Vorreiter in Mittelfranken

Das blaue Haus in der Nürnberger Südstadt: Hier entstand schon in den 90ern eine besondere WG

Azeglio Elia Hupfer

nordbayern-Redaktion

E-Mail zur Autorenseite

26.10.2024, 05:00 Uhr
1998 wurde das Haus in der Hinteren Cramergasse renoviert. Am 9. Januar 1999 zogen die ersten vier Jugendlichen ein.

© Elia Hupfer 1998 wurde das Haus in der Hinteren Cramergasse renoviert. Am 9. Januar 1999 zogen die ersten vier Jugendlichen ein.

Hinter der unscheinbaren Fassade eines Einfamilienhauses im Nürnberger Stadtteil St. Peter findet sich eine geschichtsträchtige Institution der Jugendarbeit in Mittelfranken. Seit 25 Jahren werden hier, in der Hinteren Cramergasse, besonders schutzbedürftige Jugendliche und junge Erwachsene in einer therapeutischen Wohngruppe (TWG) betreut. Die TWG Cramergasse war die erste Therapeutische Wohngruppe in Mittelfranken.

Sechs junge Menschen im Alter zwischen 15 und 21 Jahren wohnen auf drei Etagen in dem blau angestrichenen Haus in der Südstadt und lernen, mit ihren psychischen Erkrankungen zu leben und Eigenverantwortung zu übernehmen. Die Heranwachsenden bewirtschaften das Haus gemeinsam, sie gehen einkaufen, kochen, putzen und waschen ihre Kleidung selbst. Feste und gemeinsame Essenszeiten helfen dabei, den Tag zu strukturieren.

"Wir empowern die Jugendlichen hier"

Unterstützt werden die Jugendlichen von einem zehnköpfigen Team mit reichlich Erfahrung. Eine Heilerziehungspflegerin ist bereits seit 24 Jahren in der TWG Cramergasse tätig und ein Heilerziehungspfleger seit 23 Jahren - eine Besonderheit, da die stationäre Jugendhilfe oft mit viel Fluktuation zu kämpfen hat. Die TWG Cramergasse ist davon seit Jahren ausgenommen. "Seit vier Jahren stabil, das ist in so einem Arbeitsfeld nicht nur einfach außergewöhnlich, das ist schon fast unfassbar im städtischen Gebiet", sagt Heilpädagogin und Fachbereichsleiterin Karoline Kreitz.

Das Team der TWG Cramergasse auf der Feier zu ihrem 25-jährigen Bestehen im Hof der Luise in Nürnberg.

Das Team der TWG Cramergasse auf der Feier zu ihrem 25-jährigen Bestehen im Hof der Luise in Nürnberg. © Elia Hupfer

"Wir empowern die Jugendlichen hier", sagt Christiane Singer, die im Jahr 2000 ihre Arbeit als Heilerziehungspflegerin in der TWG Cramergasse aufgenommen hat und heute stellvertretende Fachbereichsleitung ist. "Professionell Geborgenheit ausstrahlen", sei eine Aufgabe. Damit meint die 45-Jährige, den Heranwachsenden einen Platz zu geben, an dem sie sich sicher fühlen und so sein können, wie sie sind. Sich geborgen fühlen ist sehr wichtig, viele der Jugendlichen haben in ihrer Vergangenheit Erfahrungen mit Mobbing und Ausgrenzung machen müssen.

Die Heranwachsenden haben aufgrund ihrer Vergangenheit oft ein gutes Verständnis für die anderen Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses und können sich so auch selbst untereinander helfen und voneinander lernen. "Oft entstehen hier Freundschaften, die Gruppe ist ein wichtiger Bestandteil im therapeutisch betreuten Wohnen", sagt Julia Szymber, die seit vier Jahren als Sozialpädagogin in der Wohngruppe arbeitet und so sei die Wohngruppe ein Platz, an dem sich die Jugendlichen sicher fühlen. "Sie können hier so sein, wie sie sind", sagt die 27-Jährige. Für sie gehe es neben der Sicherheit auch darum, Selbstwirksamkeit zu fördern.

Um das Zusammenleben in der Gruppe zu verbessern, gibt es regelmäßig gemeinsame Aktivitäten wie zum Beispiel Ausflüge in die Kletterhalle oder ins Kino. Dazu gibt es Ferienfreizeiten, Spieleabende und ein Sommerfest.

Kein starres Regelkonzept

Die TWG dient als Übergangseinrichtung für Jugendliche, die aufgrund ihrer Erkrankungen noch nicht in ihre Familien reintegriert werden können oder noch nicht in der Lage sind, ihr Leben eigenverantwortlich zu gestalten. Zu den Erkrankungen zählen unter anderem Angst- und Persönlichkeitsstörungen sowie Depressionen. In der Regel wohnen die Teenager 18 bis 24 Monate in der Hinteren Cramergasse.

"Uns geht es hier schon wirklich sehr gut", erzählt ein Teenager beim gemeinsamen Abendessen. Sie habe sich kürzlich mit Jugendlichen anderer Wohngruppen ausgetauscht und wisse daher, dass es auch anders zugehen kann. In anderen Jugendhilfeeinrichtungen gebe es noch Handy-Abgabezeiten, begrenztes WLAN und Küchen, die nachts abgesperrt werden. Außerdem würde oft auch noch auf starre Regelkonzepte gepocht. "Wir werden hier viel mit einbezogen", sagt die Jugendliche.

In der TWG kommuniziere nicht nur das Team untereinander auf Augenhöhe, sondern das gelte auch im Umgang mit den Heranwachsenden, "bei uns erhalten die Jugendlichen viel Mitsprache- und Gestaltungsrecht", sagt Szymber. Bestehende Regeln können auch angepasst oder über Bord geworfen werden. Es herrsche ein hohes Maß an Partizipation.

Bewohner im Gespräch

Ein Trauma und Depressionen beschäftigen Steevee (Name geändert), der seit rund drei Monaten in der Hinteren Cramergasse wohnt. Mit dem Abitur und dem Kunststudium sei es erstmal nichts geworden, aktuell sucht der 20-Jährige einen Minijob, um Geld zu verdienen und zu sehen, wie es um die Belastbarkeit steht. Nächsten Sommer möchte er ausziehen und eine Ausbildung zum Mediengestalter über das Berufsbildungswerk beginnen. Steevee wünscht sich einen "kreativen Job", in seiner Freizeit zeichnet und malt er leidenschaftlich gerne, einen Teil seiner Werke veröffentlicht er auf Instagram.

Das Haus hat einen schönen Hintergarten, der unter anderem mit einer Sitzgruppe, einer Tischtennisplatte und einem Hängesessel zum Verweilen einlädt.

Das Haus hat einen schönen Hintergarten, der unter anderem mit einer Sitzgruppe, einer Tischtennisplatte und einem Hängesessel zum Verweilen einlädt. © Elia Hupfer

Die ersten Monate in der neuen Wohngruppe waren für ihn gut. "Nach dem letzten Schultag gab es ein Sommerfest in unserem Garten und die Sommerreise in die Eifel war ganz cool. Wir waren in zwei Städten, an einem See und wandern", erzählt der 20-Jährige während er sich eine Zigarette dreht. Nach Problemen in der vorherigen Wohngruppe nach St. Peter zu ziehen, sei der "richtige Step gewesen", sagt er mit einem leichten Lächeln. Step ist als Anspielung gemeint, auf den Verein hinter der Wohngruppe.

Step steht für "Sozialpädagogisch-therapeutische Einrichtungen und Projekte" und ist der Träger der Jugendhilfe mit Sitz in Erlangen. Der Mitarbeiter-Verein beschäftigt mehr als 50 pädagogische Fachkräfte in den Bereichen Täter-Opfer-Ausgleich, ambulante und flexible Betreuungen, zwei therapeutischen Wohngruppen sowie einer Wohngruppe für junge Frauen mit Essstörungen. Der gemeinnützig anerkannte Verein wurde 1987 unter dem Namen SJW (Sozialpädagogische Jugendwohnprojekte) e.V. gegründet. Es war der erste Verein dieser Art in Mittelfranken.

Keine Kommentare