Lokalredakteure und ihr Wohnviertel
Die Marienvorstadt: ein Stadtteil ohne Eigenschaften
30.8.2019, 12:59 UhrNürnberg wächst und wächst, Menschen ziehen hierher, immer mehr Babys kommen hier auf die Welt. Über 530-000 Bürger leben in Nürnberg, das sind fast 14.000 mehr als 2014. Wie lebt es sich in unserer großen Stadt? In dieser Serie erzählen Journalisten aus ihren heimischen Stadtteilen, von Ecken, von Kanten und davon, was Nürnberg liebenswert macht. Heute: die Marienvorstadt.
Auf einem Abschlussklassenfoto gibt es immer so einen bemitleidenswerten Mitschüler. Man vergisst seinen Namen als Erstes. Oder, schlimmer, man kannte ihn nie. So ist das mit der Marienvorstadt. Wer erklärt, dass er da wohne, erntet auch bei eingesessenen Nürnbergern fragende Blicke. Das ist beim Amtsgericht, beginnt man dann seine Litanei. Oder: Weißt du, wo der Busbahnhof liegt? Noch mehr fragende Blicke. Also zwischen dem Busbahnhof, der Wöhrder Wiese und dem Dürrenhof. Am besten sagt man aber einfach nur: Ich wohne fast in der Innenstadt.
Die Marienvorstadt ist kein gut eingebürgerter Begriff. Das liegt an der künstlichen Entstehung dieses Stadtteils vom Reißbrett: als begrüntes, elegantes Wohnviertel zur Erweiterung der Lorenzer Altstadt nach Osten um 1860. Benannt nach Marie Friederike von Preußen, obwohl Nürnberg der bayerischen Königin nichts schuldete. Stünden diese Gründerzeithäuser mit ihren Vorgärten noch, könnte die Marienstraße heute eine Edelmeile mit Handtaschen- und Parfümläden sein. Doch der Zweite Weltkrieg ließ nichts übrig von der Grandezza, das Gegenteil ist der Fall.
Die Bahnhofstraße ist nicht mal halbseiden
Dabei haben sich in dem Viertel bekannte Adressen angesammelt: die Kunstgewerbeschule (das besagte Amtsgerichtsgebäude), die Landeszentralbank, die Autobahndirektion, ein Reha-Zentrum, das Amerika-Haus, Druckhaus und Verlag der zwei Nürnberger Tageszeitungen, städtische Ämter, das Grand Hotel und eine Klon-Armee neuer Hotels, der ärztliche Notdienst, ein Teil der Ohm-Hochschule. Alles Orte von Relevanz, aber eben nicht für Heimatgefühle.
Vermutlich weil die Wohnhäuser nur die Lücken zwischen diesen Fixpunkten füllen, ist es gleichzeitig der einzige Nürnberger Stadtteil ohne einen Lebensmittelladen. Eine gastronomische Wüste. Man bleibt in dem Viertel nur am Leben, wenn man es regelmäßig verlässt. Mit ihrem Ächzen erinnern die Bahngleise nachts daran, dass es Fluchtwege braucht. Ich kenne keine Stadt mit einer schönen Bahnhofstraße. Aber unsere ist tot und grau. Sie blinkt nicht, sie bietet ja nicht mal etwas Halbseidenes. Es gibt auch keine Nachtschwärmer. Wer hier zu später Stunde auftaucht, ist auf dem Heimweg oder ein Tunichtgut. Für Saufgelage und kleinere Überfälle ist die Wöhrder Wiese wie geschaffen. Ich mache im Dunkeln einen Bogen um sie.
Feldhasen, Igel und Fledermäuse in der Nachbarschaft
Die Marienvorstadt wäre also eine traurige Zwischenwelt – gäbe es nicht ihren tröstlichen, ja erhebenden Anteil an Natur. Denn die Wöhrder Wiese nach dem Krieg als öffentlichen Park herzustellen, war die zweitbeste Idee der Stadtplanung in dieser Gegend. Vor meinem Haus habe ich 22 Vogelarten gezählt. Jeden Abend kann ich einen Feldhasen beobachten. Ratten, Mäuse, Igel, Marder, Fledermäuse, Biber und Eichhörnchen siedeln hier. Ein Straßenzug ums Eck heißt Vogelsgarten. Wenn ich die Balkontüren öffne, höre ich den Goldbach rauschen, den Zaunkönig schmettern, die Krähen debattieren.
Jeden Sonntag tönen dazu die afrikanischen Fußballspieler von der Wiese herüber. Ich höre im Sommer hundertmal ein schiefes "Alle meine Entchen" aus den Gongs des Erfahrungsfelds der Sinne. Oder es mischt sich die Klangkulisse einer Demonstration oder eines Musikfestivals aus dem Stadtzentrum hinein. Ich mag das. Ich sehe hier meine Freiheit des Innenstädters perfektioniert: jederzeit kurzentschlossen im Herz des Geschehens sein zu können, es aber nicht zu müssen.
Die beste Idee zu diesem Stadtteil aber bestand darin, die letzte verbliebene Vorkriegsvilla wiederzubeleben und darin das bezaubernde Museum Kunstvilla einzurichten. Schon in meiner Kindheit, als ich nichts von der Historie ahnte, lag das mächtige Sandsteinhaus Blumenstraße 17, das einer jüdischen Hopfenhändlerfamilie gehörte, zufällig oft an meinem Weg in die Stadt. Es zog mich durch sein damals so verwunschen-rätselhaftes Aussehen an. Wer die Kunstvilla besucht und bemerkt, wie brutal die Nachbarhäuser das Idyll brechen, hat die ganze Marienvorstadt begriffen.
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