Die Reise nach Neurussland am Stadtpark

17.3.2021, 15:26 Uhr
Als dieses Foto um 1900 entstand, gab es in der Kant- und Hegelstraße (Bildmitte, von links) noch viele Baulücken. Vorne links ist das Wohnhaus von Margarete zur Bentlage (Am Stadtpark 81) angeschnitten.   

© Foto: unbekannt (Privatbesitz) Als dieses Foto um 1900 entstand, gab es in der Kant- und Hegelstraße (Bildmitte, von links) noch viele Baulücken. Vorne links ist das Wohnhaus von Margarete zur Bentlage (Am Stadtpark 81) angeschnitten.   

Die Schriftstellerin Margarete zur Bentlage (1891–1954) veröffentlichte 1949 einen Roman "Am Rande der Stadt", in dem sie Menschen und Orten aus dem Nürnberger Norden ein literarisches Denkmal setzte. In einer Mischung aus Erinnerung, Realität und künstlerischer Phantasie entstand das Bild kleiner Schicksalsgemeinschaften rund um die Kantstraße, immer wieder durchbrochen von expressiven Stimmungsbildern und ausgedehnten Natur- und Landschaftsschilderungen.

Der Krieg hat tiefe Wunden in das Ensemble geschlagen. Auch Margarete zur Bentlages Wohnhaus fiel den Bomben zum Opfer.

Der Krieg hat tiefe Wunden in das Ensemble geschlagen. Auch Margarete zur Bentlages Wohnhaus fiel den Bomben zum Opfer. © Foto: Boris Leuthold

Zur Bentlage stammte aus dem Artland, einer Moor- und Heidelandschaft im Norden von Osnabrück. Als Schülerin und spätere Ehefrau des Malers und Grafikers Rudolf Schiestl (1878–1931) lebte sie von 1915 bis nach dem Tod ihres Mannes im Nürnberger Stadtteil Neugroßreuth. In zweiter Ehe war sie mit dem Leipziger Verleger Paul Walter List verheiratet, in dessen Verlag ihre Romane und Erzählungen in Erstauflage erschienen. Zuletzt lebte sie mit der Familie in Garmisch-Partenkirchen, wo sie auch begraben wurde.

"Neugroßreuth", das war eine jener typischen Arbeiter- und Kleinhäuslersiedlungen, von den Alt-Großreuthern abfällig "Neurussland" genannt, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts im Umgriff der Nürnberger Vororte entstanden. Wie das wirkliche Neurussland in der heutigen Ukraine, zog auch die Siedlung Neugroßreuth ab etwa 1860 zahlreiche Neusiedler auf das bis dahin unbebaute Ackerland. Um die vorletzte Jahrhundertwende breitete sie sich im Gebiet zwischen Mohnstraße und Stadtpark aus und wurde erst 1899 zusammen mit dem Dorf Großreuth hinter der Veste nach Nürnberg eingemeindet. Als Folge des Durchstichs der Schopenhauerstraße zwischen Frieden- und Tellstraße 1979 ging der ursprüngliche Siedlungszusammenhang weitgehend verloren.

Die Reise nach Neurussland am Stadtpark

© Foto: Otto Gast

Wem der Name Kantstraße nichts sagt, beginnt unsere literarisch-stadtgeschichtliche Erkundung am besten im Stadtpark am "weißen Schillerdenkmal". Das Monument mit Sitzgelegenheiten – entworfen und ausgeführt von den Münchner Bildhauern Adolf von Hildebrand und Carl Sattler – wurde im "Schillerjahr" 1905 anlässlich des 100. Todestags begonnen und zum 150. Geburtstag 1909 eingeweiht. Der Hauptweg führt in westlicher Richtung zur Straße "Am Stadtpark". Der heutige Betrachter kann sich kaum vorstellen, dass im Eckhaus Nr. 81 (ehemals Am Maxfeld 81) der "berühmte Maler" Rudolf Schiestl mit Frau und Tochter Notburg lebte. Von der Wohnung im vierten Stock hatte Margarete zur Bentlage den Blick auf die Kant- und Hegelstraße und weiter über die Felder und Dörfer bis zu den Rändern des Reichswaldes. Das Gebäude, ein schlichtes klassizistisches Mietshaus von 1884, wurde zusammen mit den Nachbargebäuden am 2. Januar 1945 völlig zerstört.

Heimat für Originale

Die Reise nach Neurussland am Stadtpark

© Foto: Boris Leuthold

Die im Roman erwähnte Straßenbahnhaltestelle an der Kantstraße hat es nie gegeben. Die Sonntagsausflügler und Liebespaare mussten durch den Stadtpark zur Bayreuther Straße laufen, wenn sie zu den Erholungsgebieten hinter dem Nordostbahnhof (im Roman "Ostbahnhof") und der neuen Siedlung "Sommerwald" (Loher Moos) fahren wollten. Die Strecke wurde erst 1926 bis Ziegelstein verlängert.

Aus dem Eckhaus Kantstraße 5 (heute Parkstraße 43) stammte der Oboist Henkelmann vom "Stadttheater-Orchester" (Opernhaus), der nach einer Trennungsphase die fast taube Schwester des Hausbesitzers von Nr. 11 heiratete. Das Haus gehört zusammen mit Nr. 7 zu den Totalverlusten.


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Der zentrale Ort der Romanhandlung ist das erste Mietshaus "an der Landseite der neuen Straße, an der bis jetzt nur Gärten gelegen hatten," mit der fiktiven Hausnummer 20. In der Realität ist das älteste mehrstöckige Gebäude ein einfacher Sandsteinbau im Nürnberger Stil von 1898 mit der Hausnummer 4 (alte Nr. 121).

Um 1925 posierten Jung und Alt vor und im Haus Kantstraße 4 für den Fotografen. Im ersten Stock links blickt Otto Ludwig Gast, der Vater unseres Autors Otto Gast, aus dem Fenster. 

Um 1925 posierten Jung und Alt vor und im Haus Kantstraße 4 für den Fotografen. Im ersten Stock links blickt Otto Ludwig Gast, der Vater unseres Autors Otto Gast, aus dem Fenster.  © Foto: unbekannt (Sammlung Otto Gast)

Das Vorbild für die Kantstraße 20 stand, 1897 erbaut und nach dem Krieg vereinfacht instandgesetzt, bis Ende der 1970er Jahre auf der gegenüberliegenden Straßenseite (der "Stadtseite") mit der ungeraden Nummer 11. Die Familie des Hausbesitzers, des buckligen Bau- und Möbelschreiners Hans Wirth – im Roman ein philanthropisch gesinnter Kunst- und Möbeltischler "mit einem riesigen Buckel" und dem sprechenden Namen "Liebherr" – findet sich fast komplett im Roman wieder. Die Ehefrau Gretchen mit ihrem Heißmangelbetrieb, die schwerhörige Schwester Martha und der Schreiner Heinrich Schabenstiel ("Schaffenstiel"), ein Verwandter, der im Hinterhaus wohnte. Ein – erfundenes – "Asyl für entwichene Frauen" im Hinterhaus lenkt in einer Nebenhandlung den Blick auf Frauen in psychischen und materiellen Notlagen.

Knapp ein Jahrhundert später hat sich das Haus sein Antlitz im Nürnberger Stil weitgehend bewahren können. Die Viktualienhandlung Heinlein im Parterre ist Wohnraum gewichen.

Knapp ein Jahrhundert später hat sich das Haus sein Antlitz im Nürnberger Stil weitgehend bewahren können. Die Viktualienhandlung Heinlein im Parterre ist Wohnraum gewichen. © Foto: unbekannt (Sammlung Otto Gast)

Hinter dem namenlosen Bäcker, "einem dicken teigblassen Sachsen – mit mehlbestäubtem Brusthaar unter dem offenen Hemd" steht der Bäckermeister Friedrich Meyer aus der Kantstraße 13, der es nach dem Krieg noch zum ehrenamtlichen Stadtrat brachte. Das Haus wurde zusammen mit den Häusern 9 und 11, die allesamt im Krieg beschädigt und danach vereinfacht instandgesetzt worden waren, abgebrochen.

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