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"Ein Justizskandal": Warum ist die Aufklärung nach dem NSU-Bombenattentat gescheitert?

Max Söllner

Volontär

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15.10.2022, 14:41 Uhr
Juni 1999: In der Gaststätte von Mehmet O. in der Nürnberger Scheurlstraße explodiert eine als Taschenlampe getarnte Rohrbombe, die ihn schwer verletzt.

© Daut Juni 1999: In der Gaststätte von Mehmet O. in der Nürnberger Scheurlstraße explodiert eine als Taschenlampe getarnte Rohrbombe, die ihn schwer verletzt.

Das Podium im neuen Multifunktionssaal des BR: Von links: Matthias Fischbach (FDP), Arif Tasdelen (SPD), Jonas Miller (BR), Elke Graßer-Reitzner (NN), Verena Osgyan (Grüne) und Tobias Reiß (CSU). Nicht im Bild die beiden Moderatoren Eva Frisch (BR) sowie Kurt Heidingsfelder (NN).

Das Podium im neuen Multifunktionssaal des BR: Von links: Matthias Fischbach (FDP), Arif Tasdelen (SPD), Jonas Miller (BR), Elke Graßer-Reitzner (NN), Verena Osgyan (Grüne) und Tobias Reiß (CSU). Nicht im Bild die beiden Moderatoren Eva Frisch (BR) sowie Kurt Heidingsfelder (NN). © Roland Fengler, NNZ

Juni 1999: In der Gaststätte von Mehmet O. in der Nürnberger Scheurlstraße explodiert eine als Taschenlampe getarnte Rohrbombe, die ihn schwer verletzt. Er überlebt einzig deshalb, weil die Attrappe nicht fest verschraubt war, sagt der Erlanger FDP-Landtagsabgeordnete Matthias Fischbach bei der Podiumsdiskussion, die die Nürnberger Nachrichten und der Bayerische Rundfunk im neuen Sendesaal des BR gemeinsam veranstaltet haben. Der Politiker ist überzeugt: "Das wäre ein ganz entscheidender Punkt gewesen, an dem man die Verbindung hätte herstellen können."

Verbindung herstellen: Gemeint ist der Zusammenhang zur Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). In den Jahren 2000 bis 2007 tötete der NSU zehn Menschen in Deutschland, alleine drei davon in Nürnberg. Erst 2013 wurde bekannt, dass auch das Nürnberger Taschenlampen-Attentat auf das Konto der Rechtsterroristen rund um Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt geht.

Zuerst wurde gegen den Wirt ermittelt

Zuvor hatten sich die Sicherheitsbehörden einen politischen Hintergrund offensichtlich nicht vorstellen können. "Wir haben gesehen, dass vor allem gegen Mehmet O. und seinen Freundeskreis ermittelt wurde", sagt Jonas Miller, Journalist des Bayerischen Rundfunks (BR) und Teil des gemeinsamen NN-/BR-Rechercheteams zum NSU. Seine Kollegin Elke Graßer-Reitzner von den Nürnberger Nachrichten (NN) ergänzt: "Wäre der Anschlag aufgeklärt worden, hätte es die NSU-Mordserie vielleicht nicht gegeben."

Beide diskutieren im voll besetzten BR-Multifunktionssaal des Studios Franken mit Landtagspolitikern darüber, was der seit Frühjahr laufende zweite bayerische NSU-Untersuchungsausschuss aufklären kann. Im Fokus steht der Taschenlampen-Anschlag auf den Kneipenwirt, der über ein Jahr vor dem ersten NSU-Mord am Blumenhändler Enver Simsek in Nürnberg passiert ist.

Arif Tasdelen von der SPD kritisiert, dass die Staatsanwaltschaft Nürnberg/Fürth in Sachen "Mehmet O." 1999 nur wegen Körperverletzung ermittelt hat. "Für mich ist das ein Justizskandal", so der Nürnberger Abgeordnete. Hätte man wegen versuchten Mordes ermittelt, wäre der Anschlag beim Bundeskriminalamt in einer bundesweiten Sprengstoffdatei aufgeschlagen.

1,4 Kilogramm TNT-Sprengstoff gefunden

Vielleicht wäre dann aufgefallen, dass ein gutes Jahr zuvor in Jena eine von Beate Zschäpe angemietete Garage durchsucht worden war, in der 1,4 Kilogramm TNT-Sprengstoff und mehrere Rohrbomben gefunden wurden. Damals tauchten die drei Terroristen ab: Es war der Moment, ab dem das NSU-Kerntrio in den Untergrund ging.

Die Journalisten Jonas Miller (li.) vom Bayerischen Rundfunk und Elke Graßer-Reitzner von den Nürnberger Nachrichten sind Teil des gemeinsamen NN-/BR-Rechercheteams zum NSU.

Die Journalisten Jonas Miller (li.) vom Bayerischen Rundfunk und Elke Graßer-Reitzner von den Nürnberger Nachrichten sind Teil des gemeinsamen NN-/BR-Rechercheteams zum NSU. © Roland Fengler, NNZ

"Das war der erste Kardinalsfehler", sagt Tobias Reiß, parlamentarischer Geschäftsführer der CSU-Landtagsfraktion, über den nicht erkannten Zusammenhang zwischen Taschenlampen-Anschlag und Garagen-Durchsuchung. Reiß äußert Zweifel, ob der neuerliche Untersuchungsausschuss nach so langer Zeit noch vieles aufklären kann. Gleichzeitig betont er, dass auch seine Partei daran interessiert sei, verloren gegangenes Vertrauen in den Rechtstaat wieder herzustellen.

"Je tiefer man gräbt, desto mehr kommt ans Licht", sagt Matthias Fischbach von der FDP wenig später, als es um gelöschte Akten geht. Wie berichtet, hat eine Anfrage des Untersuchungsausschusses aufgedeckt, dass ein riesiger Datensatz des bayerischen Landeskriminalamtes (LKA) mit Informationen zum Umfeld des NSU im Oktober 2021 gelöscht worden war - laut Fischbach einen Tag, nachdem im Innenausschuss zur Sprache kam, dass es einen zweiten NSU-Untersuchungsausschuss geben könnte.

CSU und FW lehnten Beweisanträge ab

Schlamperei oder Absicht? Die Grüne Verena Osgyan hat den Ausschuss mitinitiiert und will sich noch kein Urteil erlauben. "Dazu untersuchen wir das Ganze ja", sagt sie. Merkwürdig und unüblich aber sei, dass die Regierungsvertreter von CSU und FW entsprechende Beweisanträge abgelehnt hätten. Fischbach zum Beispiel hätte gerne die zuständigen Systemadministratoren befragt, die während der Löschung Dienst hatten. Die Aussage des LKA-Präsidenten reicht ihm nicht aus: "Man kann ihm glauben, oder wir haben eine Thematik, wo man doppelt hinschauen muss, damit Vertrauen da ist."

Reiß kontert, dass die Vernehmung der Administratoren möglicherweise gar nicht relevant ist, kann jedoch ansonsten nicht viel dazu sagen. Als einziger der auf dem Podium vertretenen Politiker ist er nicht Teil des Untersuchungsausschusses. Von den dort vertretenen CSU-Politikern hatten alles fürs Podium abgesagt.

Brisant: Die Akten sollen Informationen über Susann E. erhalten haben, einer engen Vertrauten Zschäpes. Mehmet O. hat sie rund 15 Jahre nach dem Taschenlampen-Anschlag auf Fotos wieder erkannt, die ihm das Bundeskriminalamt vorgelegt hatte. Doch vernommen wurde E. nie - für die Grünen-Politikerin Osgyan eine Fortsetzung "systematischer Ermittlungsfehler".

NN-Journalistin Elke Graßer-Reitzner will wissen, ob Susann E. in der Gaststätte von Mehmet O. gewesen sein kann. Sie fordert, die Datenlöschung vollumfänglich aufzuklären: "So etwas weckt Verschwörungstheorien, so etwas weckt Verdachtsmomente. Schließlich sind zehn Menschen getötet worden. Da ist kein Platz für Parteiengezänk, das muss jetzt aufgeklärt werden."

In rund einer Woche wird Mehmet O., der nach dem Anschlag seiner Heimatstadt Nürnberg den Rücken gekehrt hat, vor dem Untersuchungsausschuss in München aussagen.

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