Eine Utopie im Test: Grüne Welle an Nürnbergs Ampeln
23.3.2018, 05:52 UhrDie Nürnberger Zeitung befuhr den Ring einmal um 10 Uhr und einmal während des Berufsverkehrs um 16 Uhr. Auch die Sulzbacher Straße, die Ostendstraße und die Münchener Straße wurde getestet. Im Anschluss nahm der Leiter des Verkehrsplanungsamts, Frank Jülich, dazu Stellung, ob die Stadt tatsächlich den Autofahrern absichtlich das Leben schwer macht.
Was bedeutet das eigentlich, die "grüne Welle"?
Wenn Autofahrer sich eine grüne Welle wünschen, wollen sie am liebsten kilometerweit durch die Stadt fahren, ohne ein einziges Mal an der Ampel stehen zu bleiben. Laut offizieller Definition handelt es sich aber bereits um eine grüne Welle, wenn 65 Prozent der Ampeln bei Grün passiert werden können, erklärt Frank Jülich.
Beim NZ-Test um 10 Uhr hatten wir also strenggenommen eine grüne Welle. Für uns hat sich das aber ganz und gar nicht so angefühlt; und das, obwohl zum Zeitpunkt dieses Tests recht wenig auf den Straßen los war. Doch sehen Sie selbst:
Frank Jülich spricht übrigens auch nicht gern von der grünen Welle: Ihm ist der Begriff "Koordinierung" lieber. Der besagt letztlich nur, dass die Ampelphasen auf einer bestimmten Strecke aufeinander abgestimmt sind: so, dass man unter idealen Bedingungen selten halten müsste.
Dass die grüne Welle während der Stoßzeiten wegen des vielen Verkehrs nicht funktioniert, leuchtet ja noch ein. Aber wieso muss man auch um 10 Uhr an 16 von 65 Ampeln allein am Ring halten?
"Eine Koordinierung gibt es sowieso nur zu den Stoßzeiten. Um 10 Uhr sind die Hauptstrecken und die Querstraßen gleichberechtigt – und das heißt, dass mal der eine und mal der andere warten muss", erklärt Frank Jülich. Vier verschiedene Programme gibt es pro Tag. Je nach Tageszeit sind die Ampelphasen unterschiedlich lang. Von 6.30 bis 9.30 und von 14.30 bis 19.30 Uhr sind sie auf den wichtigsten Einfallstraßen koordiniert – und zwar so, dass vormittags der Verkehr möglichst flüssig nach Nürnberg hineinkommt und nachmittags wieder hinaus. In beide Richtungen gleichzeitig kann es keine grüne Welle geben, weil die Abstände zwischen den Ampeln unterschiedlich lang sind. Das macht es physikalisch unmöglich.
Könnte man nicht schneller auf veränderte Verkehrssituationen reagieren und die Programme flexibler umschalten?
Das könnte man – doch jede Umschaltung bedeutet erst mal noch mehr Probleme und mehr Stau, als es ohnehin schon gibt. "Die Signaltechnik muss die neue Anforderung erst mal umsetzen – das ist so, als würde der Computer neu hochfahren. Dadurch kommt es zu Verzögerungen", so Jülich. Deshalb schaltet das Verkehrsplanungsamt so selten wie möglich zwischen den Programmen hin und her.
Während des Berufsverkehrs am Nachmittag standen wir an noch mehr Ampeln – trotz der Koordinierung. Wie kommt das?
"Das liegt an den vielen unterschiedlichen Variablen, die eine Rolle spielen", sagt Frank Jülich. Auf den ersten Blick geht es nur darum, den Verkehr zwischen der Haupt- und den Querstraßen aufeinander abzustimmen.
Es kommen aber noch einige andere Faktoren hinzu: Ein- und Ausfahrten, etwa von Parkhäusern; Fußgängerampeln, an denen gedrückt wird; Ein- und Ausparker; Autofahrer, die unterschiedlich schnell fahren: In einer 50er-Zone fährt der eine 45, der andere 60 Stundenkilometer schnell. Zudem hat der öffentliche Nahverkehr Vorfahrt, und die Feuerwehr kann sich auf dem Weg zum Einsatz selbstständig Strecken freischalten – häufig schon deutlich bevor die Fahrzeuge überhaupt dort ankommen. Das alles sind Faktoren, die der Autofahrer in vielen Fällen gar nicht mitbekommt – er macht die "schlechte" Schaltung des Verkehrsplanungsamtes dafür verantwortlich.
Hinzu kommt: Je mehr Fahrzeuge auf der Straße unterwegs sind, desto länger werden die Ampelphasen geschaltet. Während der Stoßzeiten dauert ein Durchlauf (also vom Anfang einer Grünphase bis zum Anfang der nächsten) 100 Sekunden. Diese lange Zeit sorgt dafür, dass möglichst viele Fahrzeuge möglichst zügig durchkommen. Für den Einzelnen, der eine rote Ampel erwischt, fühlt sich die Wartezeit aber extrem lang an. "Leistungsfähigkeit geht vor Komfort", fasst Jülich diesen Ansatz zusammen. Oberste Priorität hat jedoch die Verkehrssicherheit – vor allem für die schwächeren Verkehrsteilnehmer.
Einen Haken haben die langen Grün- und Rotphasen übrigens: Dadurch entstehen lange Schlangen vor den Ampeln. Beim Anfahren werden die Lücken zwischen den Autos aber nach hinten immer größer. "Wir nennen das den Ziehharmonika-Effekt", so Jülich. Nach 60 Sekunden hätten sich so schon vier Sekunden verschenkte Grünzeit angesammelt.
Kann man die Situation für Autofahrer noch verbessern?
Frank Jülich ist vom Nürnberger System überzeugt: "Wir sind eine der Städte, die die Verkehrsplanung komplett selbst machen. Andere Städte lagern das aus." Siemens habe bei einer Untersuchung Nürnberg Effektivität und Wirtschaftlichkeit bescheinigt. "Die Situation ist zu 95 Prozent optimal. Die restlichen fünf Prozent zu optimieren, würde viel Geld kosten." Zudem mache man eben nicht nur Signaltechnik für Autofahrer: "Wir denken an alle Verkehrsteilnehmer. Wir haben die Stadt lange genug dem Autofahrer geopfert. Hier soll man leben, sich erholen und seine Freizeit verbringen." Natürlich gebe es Menschen, die mit dem Auto in die Stadt fahren müssen. "Aber die Hälfte aller Fahrten ist unter fünf Kilometer lang. Da gäbe es in vielen Fällen sicher Alternativen."
Könnte man an einigen Stellen nicht einfach eine Spur mehr bauen, um den Verkehr zu entzerren?
"Wer Straßen sät, wird Stau ernten", sagt Frank Jülich. Was er damit sagen will: Das Angebot bestimmt die Nachfrage, das zeige die Erfahrung. Macht man die Straßen breiter, gibt es bald noch mehr Autoverkehr. Und das wünscht sich wohl keiner – auch die Autofahrer selbst nicht.
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