„Englisch und Chopin sind für mich blau“
9.5.2012, 00:00 UhrWas ist blau? Der Himmel? Das wäre wohl die Antwort von vielen. Elvira muss nicht lang überlegen. „Das E ist blau“, sagt sie. „Und die Ziffer 5. Und die Musik von Beethoven und die von Chopin.“ Elvira ist Synästhetikerin. Synästhesie ist ein neurologisches Phänomen, das wissenschaftlich immer besser erforscht wird und doch in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt bleibt. Elvira gehört zu den Menschen, die verschiedene Bereiche der Sinneswahrnehmung miteinander verknüpfen. Oder anders ausgedrückt: Ein Reiz lässt mehrere Sinneswahrnehmungen gleichzeitig entstehen. Zum Beispiel: Wenn die 52-Jährige eine bestimmte Musik hört, sieht sie gleichzeitig eine bestimmte Farbe. Das Gleiche passiert bei Buchstaben.
Für das Heft im Fach Englisch hätte Elvira am liebsten einen blauen Einband genommen. Damals, als sie noch in die Schule ging. Doch das ging nicht. Schüler müssen sich an die Vorgaben der Lehrer halten. Der Lehrer hatte bestimmt, dass das Englischheft rot eingebunden werden sollte. Für die meisten Schüler war das kein Problem. Für Elvira schon. Wenn sie ihr Englischheft auf den Tisch legen sollte, griff sie im ersten Impuls immer erst nach dem blauen Heft. „Vokale machen für mich die Farbe eines Wortes aus“, sagt sie. „Das Wort Englisch beginnt mit dem Vokal e, also ist Englisch blau.“ Im Nachhinein lässt sich ihr Empfinden von früher leicht in Worte fassen: „Wenn das Heft rot ist, gibt es vor meinem geistigen Auge für einen Moment Chaos.“
Mit diesem Chaos musste sie lange immer wieder klarkommen. Sie bekam in der Schule Ärger und galt als „unartig“, wenn sie den Anordnungen der Lehrer nicht Folge leistete und beispielsweise Merksätze mit anderen Farben als der Rest der Klasse markierte – mit Farben, die für sie passten. Damals hatte sie von dem Phänomen Synästhesie noch nie gehört. Und sie hütete sich, anderen etwas von ihren besonderen Fähigkeiten zu verraten. Damit verhielt sie sich nicht anders als die meisten anderen Synästhetiker auch: Die Angst davor, als etwas eigenartig abgestempelt zu werden, ist groß.
Die Angst hat Elvira auch heute noch nicht ganz verlassen. Für diesen Artikel hat sie sich zwar sofort dazu bereiterklärt, etwas über ihre Wahrnehmungsweise zu erzählen. Nicht zuletzt auch, um anderen zu helfen, die ebenfalls Synästhetiker sind, ohne es bisher zu wissen. Nur: Bei ihrem richtigen Namen genannt werden möchte die Nürnbergerin nicht.
„Die meisten Synästhetiker kommen durch Zufall darauf, dass bei ihnen etwas anders ist“, sagt Elvira. Als Kind mache man manchmal Äußerungen über seine Wahrnehmung, merke aber schnell, dass das bei anderen anders ist, und lasse es dann, darüber zu sprechen. Dass ihre Wahrnehmung sich von der ihrer Altersgenossen unterschied, bemerkte Elvira zum ersten Mal, als sie Flöte spielen lernte: „Die Noten, nach denen wir spielen sollten, waren farbig, und diese Farben haben nicht zu meinen Farben gepasst. Die anderen Schüler dagegen hatten keine Probleme.“
Erst als sie erwachsen war, erfuhr sie von dem Phänomen Synästhesie. Sie las Bücher darüber, kam in Kontakt mit Hinderk Emrich, dem inzwischen emeritierten Professor für Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover, der sich mit der Forschung über Synästhesie einen Namen gemacht hat. Heute hat sie es quasi amtlich, dass sie zu diesem Personenkreis gehört. Sie ließ sich untersuchen, lag im Kernspin, damit ihre Gehirnbilder sichtbar wurden. „Man kann dem Gehirn beim Denken zuschauen“, erklärt sie. Ihr wurden Töne vorgespielt, Buchstaben und Zahlen gezeigt. Das Sehzentrum, genauer: das Farbzentrum, reagierte darauf. Jetzt ist es wissenschaftlich nachgewiesen: Sie ist Synästhetikerin. „Ja, es ist so, es ist keine Einbildung.“ Das zu wissen, kann schon eine Erleichterung sein.
Der Austausch mit anderen hilft, das betont sie mehrmals. Und auch, dass es einen wissenschaftlichen Hintergrund gibt, der die Betroffenen aus der Ecke der „Spinner“ herausholt. Mit Synästhesie befassen sich in Deutschland besonders intensiv das Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt und das Forschungszentrum Jülich. Über das Synästhesie-Forum tauschen sich Betroffene im Internet aus. Die Deutsche Synästhesie-Gesellschaft veranstaltet zusammen mit dem Musischen Zentrum der Universität Ulm am
11. und 12. Mai an der Uni in Ulm die internationale Fachkonferenz „Synästhesien bei Kindern. Kreativität und Lernen“ (nähere Informationen unter www.uni-ulm.de/synaesthesia).
Das Phänomen Synästhesie gibt weiter Rätsel auf. Die Forscher haben inzwischen 63 Synästhesieformen gefunden – es geht bei weitem nicht nur darum, dass beispielsweise Töne mit Farben verknüpft werden. Ohnehin hat jeder Synästhetiker eine andere Wahrnehmungsweise. Doch selbst die Wissenschaftler sind sich bei manchem nicht einig. Ist Synästhesie
erblich oder vielmehr beim Lernen anerworben? Oder haben alle Säuglinge am Anfang ein synästhetisch arbeitendes Gehirn, wobei sich dann in den ersten Lebensmonaten einige Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen auflösen und nur bei den Synästhetikern die enge Vernetzung bestehen bleibt? Wie viele Synästhetiker gibt es überhaupt? Hat jeder Tausendste oder Hundertste diese besondere Fähigkeit oder gar jeder Zwanzigste, wie der US-Forscher Sean Day jetzt in den Raum gestellt hat?
Ein Drittel bis die Hälfte aller Kinder seien Synästhetiker, zeigt sich Christine Söffing, zweite Vorsitzende der Deutschen Synästhesie-Gesellschaft, Künstlerin und selbst Synästhetikerin, überzeugt. Ziemlich klar zu sein scheint, dass viele Synästhetiker künstlerisch tätig sind. Wassily Kandinsky soll sich beim Malen seine Farben vorgesummt haben. Alexander Skrjabin hat beim Komponieren des „Prometheus“ eine extra „Lichtstimme“ zur Partitur geschrieben, die den Tönen eigens ein passendes Farblicht zuordnet. Verschiedene Arten von Blau stehen für die Tonarten E, B und F – Träume, Kontemplation und Kreativität.
„Für mich ist blau Wohlbefinden und Ruhe“, sagt Elvira.
Informationen Über Synästhesie gibt es im Internet unter anderem unter www.synaesthesie.org
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