Damals schrieb er auf Klopapier, Zigaretten tauschte er bei einem Kameraden gegen einen Bleistift ein. Etwa 30.000 Mann befanden sich zu der Zeit in dem Auffanglager. Den Alltag dort beschreibt Deß als trostlos, weil sie nichts zu tun hatten: "Am einfachsten ist es zu schreiben und so will ich mir Notizen hier vom Leben im Lager machen."
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Eine akribische Tagebuchführerin war auch die Großmutter von Friedel Schmolinski, die von 1882 bis 1969 lebte; er selbst war gegen Kriegsende acht Jahre alt. Im Zweiten Weltkrieg wurden seine Großeltern in Dortmund ausgebombt und lebten seitdem in ihrem Ferienhaus in Herdecke. Schmolinski wohnt heute in Fürth und beschreibt seine Oma als begeisterte Hitler-Anhängerin, die seitenlang darüber schrieb, so wie am 21. März 1933 (S. 12): "(. . .) Heute tritt zum ersten Male ein Parlament zusammen, das von Rechtsparteien regiert wird. Die Freude darüber liest man auf allen treudeutschen Gesichtern. Die Begeisterung ist übergroß. (. . .) Wir wollen hoffen, hoffen, daß nun eine Zeit beginnt, in der Recht und Gerechtigkeit regieren. Gott stehe unserem treuen Vaterland bei, hüte uns vor Kriegen, Krankheit Hunger u. Nöten, mache uns zu einem Volke, das Achtung und Liebe in der Welt genießt, das wieder Freude an der Arbeit u. am Schaffen findet!!!! Heil Deutschland!"
Doch als der Krieg vorbei war, scheint die einstige Hitler-Anhängerin zu begreifen, was unter dem Nazi-Regime wirklich passiert ist. Am 26. Mai 1945 (S. 119) schreibt sie Folgendes: "Tränen füllen die Augen eines ehrenhaften Deutschen beim Hören der feindlichen Berichte über das Benehmen und Verhalten derer, die sich ,deutsche Führer‘ nannten. (. . .) Uns selbst unbewußt begingen wir den groben Fehler einen Mann zu wählen, der sich später als Verführer entpuppte, der unmenschlichen Kampf entfesselte und in seinem Lande Schandtaten duldete, das ein Untermenschentum züchtete."
Die meisten Männer und Frauen, die uns schrieben, waren damals jedoch noch Kinder. Viele erinnern sich an das schöne Wetter am 8. Mai 1945 und wie sie in den Kartoffelkellern kauerten, wo sie oft stunden- oder tagelang ohne Licht, Wasser und Toilette ausharrten oder weiße Bettlaken sowie Taschentücher schwenkten als die amerikanischen oder russischen Soldaten eintrafen.
Allgemein können sich die Menschen sehr detailreich an die Erlebnisse erinnern. So fragt sich Erika Dürr, Jahrgang 1939, noch heute, woher ihre Mutter die dünne Kartoffelsuppe hatte, als sie zu ihrem ausgebrannten Haus nach Nürnberg zurückkehrten. Auch Christiane Moosbach, heute 83 Jahre alt, schreibt: "An das Eintreffen der Amerikaner kann ich mich ganz genau erinnern." Wie ihre Mutter an der einen Hand ihre Schwester hielt und in der anderen das Tierfutter, als die Jeeps der amerikanischen Soldaten auf sie zurollten.
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Obwohl die meisten zunächst Angst hatten, stuften sie die Amerikaner bald als freundlich ein. Diese schenkten den Kindern Kaugummis und Schokolade. Ein einprägsames Erlebnis muss auch das Zusammentreffen mit den ersten schwarzen Soldaten gewesen sein. Beinahe alle Leserinnen und Leser, die ja noch Kinder waren, erwähnen es in ihren Zuschriften.
Es sind die kleinen Momente, die einen kurz Schmunzeln lassen, doch schon im nächsten Absatz holen einen grausame Erlebnisse wieder ein. Unter welch entsetzlichem Hunger die Bevölkerung damals leiden musste, berichtet die 87-jährige Hedwig Schmidkunz, die den Krieg in Nürnberg erlebt hat. Zwei Mal verloren sie und ihre Familie Häuser, weil sie zerbombt wurden. Bei einem Angriff wurden sie verschüttet, ihre Tante und ihr Onkel überlebten den Angriff nicht. So zog die Familie in deren Haus in Gostenhof.
Damals gab es noch Plumpsklos und das Viertel stank: "Ich war todunglücklich dort. Immer wieder bin ich nach Leonhard und habe das alte Haus betrauert, weil es so schön war", erinnert sich Schmidkunz. Noch heute verfolgen sie die "elenden Erinnerungen": "Wir hatten keine Psychiater, die uns darüber weggeholfen hätten. Man konnte mit niemandem darüber reden."
Auch Wilhelm Kern überkamen die Tränen, immer wenn er die Geschichte seiner Tochter Gisela Hoffmann-Mehrle erzählte, die sie uns zukommen ließ, da ihr Vater vor zwei Jahren starb. Er wurde 88 Jahre alt. Kern war damals Schlosserlehrling bei MAN, als eines Tages Soldaten auf der Arbeit erschienen. Ihm und den anderen Lehrlingen erklärten sie, "dass sie noch an diesem Tag endlich etwas Großes leisten könnten. Sie würden in den Dienst ihres Vaterlandes gestellt, um den Kampf für Deutschland zu unterstützen."
Allesamt mussten sie einen vordiktierten Brief an ihre Mütter schreiben; Wilhelm Kern wagte es nicht einmal, "Mutti" statt "Mutter" zu schreiben. In der Kaserne angekommen, bekamen sie Uniformen, die nicht richtig passten. "Besonders der Karl, der sowieso kleiner als die anderen war, musste die Ärmel und Hosenbeine mehrmals umkrempeln, der Helm schlackerte um seinen Kopf."
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Später bei der Übung heulten plötzlich Sirenen und "die Jungen mussten sich in den Gräben flach hinwerfen. Es zischte und donnerte um sie herum." Danach versammelten sie sich, doch Karl fehlte, bemerkte Wilhelm Kern. Also suchten sie nach ihm, bis sie vor ihm standen: "Karls Augen stierten ins Leere. Durch eine Druckwelle war dem Bub durch den schlechtsitzenden Helm fast der Kopf abgerissen worden."
Der General teilte daraufhin "an alle Zigaretten aus und forderte die Jungen auf zu rauchen, auch wenn sie in die Hose machen würden. Das war Wilhelms erste Zigarette und lange Zeit sah er jedes Mal, wenn er sich eine Zigarette anzündete, dieses grauenhafte Bild vor sich", endet der Zeitzeugenbericht, der sich wie das Skript für ein Kriegsdrama liest, das Wilhelm Kern und viele andere aber tatsächlich erlebt haben.