Filet-Republik: Unser besorgniserregender Umgang mit Fleisch
13.11.2019, 20:06 UhrIm Oktober kommen auf den Teller, unter anderem: Blutwurstmaultaschen und Ochsenbäckchen. Im vergangenem Jahr lud das Nürnberger Cateringunternehmen Lehrieder zu einem "Trendevent" ein. Für die geladenen Gäste gab es Zunge, Schweinekopf, Hirn, Niere, Bauch, Keule und Rücken. Verarbeitet zu Sülze, paniert und gebraten oder "sous-vide", also vakuumgegart.
Hans Fruth wuchtet Schweinehälften auf den Tisch. Er ist Metzger in vierter Generation, studiert hat er Lebensmitteltechnik. Routiniert zerlegt Fruth den Tierkörper: Das hier ist das klassische Schnitzel, hier kommen Schäufele, Filet, Bauchspeck, Rippchen. Füße, das Schwänzchen. Zunge, Herz mit Lunge, Nieren, Leber. Der Kopf. Fruth hat sich vor langem entschieden, für seine Metzgerei in Gibitzenhof nur Schweine aus einer stressresistenten Rasse schlachten zu lassen. Gemästet wurden sie auf dem Hof eines Kartoffelbauern, der die Tiere mit Kartoffelschalen füttert. Das Ergebnis: schmackhaftes, saftiges Fleisch. Fruth weiß, was er tut. Viel zu selten weiß es der typische Fleischesser auch.
Wir leben in einer Gesellschaft der Extreme. Die einen kauen als Mutprobe im Urlaub Heuschrecken auf thailändischen Night-Markets, die anderen verzehren nur klinisch reines Filet. Unser Wohlstand vernachlässigt die große Mitte, genauer: alles, was kein reines Fleisch ist. Üblicherweise werden je nach Art 40 bis 55 Prozent eines Nutztieres verwendet. Nur etwa ein Drittel sind "edle" Teile wie das Muskelfleisch. 1984 wurden in Westdeutschland pro Kopf 1,5 Kilogramm Innereien gegessen, bis 2015 sank der Verzehr auf rund 100 Gramm Jahresverbrauch in ganz Deutschland. Darauf weist der aktuelle "Fleischatlas 2018" hin. Herausgeber sind die Heinrich-Böll-Stiftung, der Bund für Umwelt und Naturschutz und die Monatszeitschrift "Le Monde diplomatique".
Häute, Hufen, Hörner und Borsten
Was hierzulande verschmäht wird, geht in den Export. So ist China der Großabnehmer von Innereien, Köpfen und Schwänzen von Schweinen. In Europa unverkäufliche Hühnerteile werden in Afrika angeboten – mit katastrophalen Folgen für die einheimische Geflügelwirtschaft. In Deutschland entsteht aus Schlachtabfällen wie Häuten, Hufen, Hörnern, Schweineborsten und Knochen beispielsweise Tierfutter – seit BSE aber nicht für Wiederkäuer –, das abgeschmolzene Fett wird auch Biodiesel zugesetzt.
Essen ist in unserer Überfluss-Gesellschaft weniger Notwendigkeit als eine Entscheidung, die tagtäglich mehrfach getroffen wird. Was essen wir, wie essen wir es, auf was soll man verzichten und warum? Für viele Menschen, darunter auch so einige Starköche, ist die Verarbeitung "von der Schnauze bis zum Schwanz" der einzig vertretbare Grund für das Töten eines Tieres. Seit 1999, als der Brite Fergus Henderson das Kochbuch "Nose to Tail Eating" veröffentlichte, haben Pansen, Nieren, Lunge und Herz eine neue, große Bühne gefunden. Die gastronomische Avantgarde genießt Speisen aus Zutaten, die früher Arme-Leute-Essen ausmachten.
Was die Jahrzehnte des Wohlstands angerichtet haben, lässt sich gut an der fränkischen Küche sehen. Früher, erinnert sich Hans Fruth, waren in der Metzgerei Leber und Niere besonders begehrt, für Saures Lüngerl und Saure Nieren. Die Kunden kauften Zutaten für gebackenen Kalbskopf, Ochsenmaulsalat gab es fertig in Dosen. Die Vielfalt im Kochtopf wurde abgelöst vom Zweierlei in der Pfanne, nämlich von Steaks und Hackfleisch.
Schnitzel aus gekochtem Euter
Doch weil Fruth auch Mittagstisch anbietet und fast alle Waren handwerklich selbst herstellt, kann er das ganze Tier nutzen. Knochen werden zerhackt, mit Zwiebeln angebraten und über Nacht auf kleiner Flamme ausgekocht. Diese stark kollagenhaltige Brühe bildet die Basis für Suppen und Soßen. Lunge und Milz kommen in manche Leberwurstsorten, Magen und Kopf in den Presssack. Därme ummanteln Stadtwurst und Bockwurst. Aus Schnauze und Schwarte kocht der 53-Jährige Sülze, auch wenn ihn fertiges Aspikpulver da billiger käme.
Nicht nur in Franken, überall in Deutschland kochten die Menschen so, dass sie wenig wegwerfen mussten. Panierte "Berliner Schnitzel" bestehen aus gekochtem Euter, in Baden löscht man Kutteln mit Essig ab und kocht sie in Brühe. Der pfälzische Saumagen ist eine legendäre Kraftspeise, die der verstorbene Bundeskanzler Helmut Kohl bekanntmachte. Gepökelte Schweinebacken waren beliebt zu Sauerkraut oder Grünkohl, überall gab es gekochte Rinderzunge als Aufschnitt, Schweineohren grillte und frittierte man ganz selbstverständlich.
"Eine komplette Esskultur verkommt"
Damals nannte man das sparsam – was keine Herabwürdigung bedeutete, sondern eine einfache Tatsache war. Dann stellte die industrielle Tierhaltung die teuersten Stücke eines Tieres jederzeit in großen Mengen zur Verfügung, die anderen Teile wurden schnell als minderwertig angesehen. Heute, wenige Jahrzehnte später, sind manche Schlachtabschnitte schon fast zum Nahrungsmitteltabu geworden, bedauert der "Fleischatlas" der Heinrich-Böll-Stiftung. Hans Fruth nennt die Folgen: "Eine komplette Esskultur verkommt."
Der gute Geschmack aber könnte sich erneut seinen Weg bahnen: Indem die Sterneküche die Richtung vorgibt, wenn sie alte Rezepte und Zutaten wie Innereien ansprechend auf den Teller bringt. Gleichzeitig erfährt das getötete Tier neue Wertschätzung. Hans Fruth verkauft seine Bio-Salami erfolgreich im Einzelhandel. Und er hat wieder Schweinefüße in der Metzgerei, die 1896 gegründet wurde: Für die asiatische Kundschaft sind sie eine Delikatesse.
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